Artikel herunterladen

Das Antidepressivum Fluoxetin verbessert nicht die motorische Rehabilitation nach einem Schlaganfall

Im Jahr 2011 erschien im Lancet Neurology eine kleine Industrie-unabhängige Studie mit dem Akronym FLAME, in der 113 Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall und Hemiplegie oder Hemiparese mit Physiotherapie mit dem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Fluoxetin behandelt wurden. Diese kam zu dem Ergebnis, dass es mit Fluoxetin gegenüber Plazebo zu einer signifikanten Verbesserung der motorischen Funktion nach 90 Tagen kommt und zu weniger postinfarziellen Depressionen (1). Tierversuche legen nahe, dass sich die Hirnfunktionen nach einem ZNS-Trauma durch Neurotransmitter „positiv modulieren“ lassen. Auch den SSRI werden solche „neuroprotektive“ Eigenschaften zugeschrieben. Somit besteht bei Neurologen die Hoffnung, mit Fluoxetin die Folgen von Schlaganfällen begrenzen können (2).

Nun werden diese Erwartungen durch eine wesentlich größere randomisierte plazebokontrollierte Studie (RCT) stark gedämpft (3). Die britische, mit öffentlichen Geldern finanzierte FOCUS-Studie schloss von 2012 bis 2017 insgesamt 3.127 Patienten ein. Die Autoren bezeichnen die Studie als ein pragmatisches RCT, weil das sonstige Patientenmanagement nach lokalen Standards und die Nachkontrolle allein über Fragebögen und Telefoninterviews erfolgten. Ein vorgegebenes Physiotherapieprogramm oder eine strukturierte neurologische Nachuntersuchung, wie dies in der FLAME-Studie erfolgt ist, gab es nicht.

Studiendesign: Einschließbar waren Patienten, die 2-15 Tage zuvor einen ischämischen oder hämorrhagischen Schlaganfall erlitten und persistierende neurologische Ausfälle hatten. Ausgeschlossen wurden u.a. Patienten, die schon einmal einen Suizidversuch mit Arzneimitteln unternommen hatten oder im Vorfeld mit SSRI gegen Depressionen behandelt worden waren. Die Patienten erhielten 186 Kapseln, die entweder mit 20 mg Fluoxetin oder Plazebo gefüllt waren. Diese sollten sie einmal täglich über 6 Monate einnehmen. Nach 6 und 12 Monaten erfolgten Nachuntersuchungen zum funktionellen Status. Hierfür wurden den Patienten mehrere Fragebögen zugeschickt, die sie selbst ausfüllen mussten. Wenn diese nicht zurückgeschickt oder unvollständig ausgefüllt wurden, erfolgte ein Telefoninterview. Bei Hinweisen auf Nebenwirkungen wurde der behandelnde Hausarzt befragt. Wenn in den 6 Monaten eine Depression diagnostiziert wurde, durfte diese auch medikamentös behandelt werden, allerdings nicht mit einem SSRI. Primärer Studienendpunkt war das Ausmaß der Behinderung nach 6 Monaten nach dem Modified Rankin Score (mRS; dieser beschreibt das Ausmaß einer Behinderung nach einem Schlaganfall auf einer Skala von 0-6, wobei 0 keine Ausfälle und 6 Tod bedeutet; vgl. 4), sekundäre Endpunkte waren u.a. Letalität, Stimmungslage (gemessen mit Mental Health Inventory = MHI-5) und die Lebensqualität (EuroQoL-5).

Ergebnisse: Es erhielten 1.564 Patienten Fluoxetin und 1.563 Plazebo. Die Basis-Charakteristika der beiden Gruppen waren gleich: 39% Frauen; mittleres Alter 71,3 Jahre; 92% ohne Hilfsbedürftigkeit vor dem Schlaganfall; 8% mit einer Depression in der Vorgeschichte; 90% mit ischämischem und 10% mit hämorrhagischem Insult; 29% mit Aphasie; 87% mit peripherem motorischem Defizit; 73% konnten bei Studienbeginn nicht allein gehen.

Die 6-Monate-Nachbeobachtung lag für 91% der Patienten vor; 9% in beiden Studienarmen schieden vorzeitig aus, entweder weil sie starben (8%) oder ihre Einwilligung zurückzogen. Mit Fluoxetin stoppten 9% und mit Plazebo 8% die Studienmedikation, meist wegen Nebenwirkungen. Die Arzneimitteladhärenz war akzeptabel: Zwei Drittel in beiden Gruppen nahmen die Studienmedikation über mindestens 150 Tage ein.

Der primäre Endpunkt trat in beiden Gruppen gleich häufig auf (Angaben jeweils Fluoxetin vs. Plazebo): 7% vs. 8% waren nach 6 Monaten ohne Symptome (mRS = 0); 19% vs. 20% hatten leichte Symptome ohne klinisch bedeutsame Behinderung (mRS = 1); 10% vs. 10% hatten eine leichte Behinderung ohne Hilfebedarf im Alltag (mRS = 2). Eine schwerere Behinderung behielten 55% vs. 54%, davon 33% vs. 33% mit mRS 3; 8% vs. 8% mit mRS 4; und 14% vs. 13% mit mRS 5. In keiner der vordefinierten Subgruppen fand sich ein statistisch signifikanter Nutzen vom Fluoxetin.

Die einzigen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (sekundäre Endpunkte) bestanden darin, dass bei Patienten mit Fluoxetin seltener eine Depression diagnostiziert (13,4% vs. 17,2%; Relatives Risiko = RR: 3,78; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,26-6,3; p = 0,003; Number Needed to Treat: 26) und eine geringfügig bessere Stimmung gemessen wurde (MHI-5: 76 vs.72 von maximal 100 Punkten). Alle übrigen Tests bzw. Endpunkte zeigten keine Vorteile nach Einnahme von Fluoxetin. Diesem fehlenden bzw. geringen Nutzen steht ein statistisch signifikant höheres Risiko für Knochenfrakturen unter Fluoxetin gegenüber (2,8% vs.1,4%; RR: 1,41; CI: 0,38-2,43; p = 0,007), wahrscheinlich bedingt durch eine höhere Sturzneigung (RR: 1,66; knapp nicht signifikant). SSRI werden ja, wie andere Antidepressiva auch, zu den „FRIDS“ gezählt, den „Fall Risk Increasing Drugs“ (vgl. 5).

Der Kommentator B. van der Worp vom Brain Center in Utrecht (6) erklärt die diskrepanten Ergebnisse zwischen FOCUS- und FLAME-Studie durch Unterschiede bei der Patientenauswahl, der Begleittherapie, den verwendeten Messinstrumenten und der unterschiedlichen Nachbeobachtungszeit (6 vs. 3 Monate). Es müssten die Ergebnisse weiterer Studien mit Fluoxetin (z.B. AFFINITY und EFFECTS; vgl. 7) abgewartet werden, bevor ein Nutzen von Antidepressiva in dieser Indikation endgültig beurteilt werden kann. Die FOCUS-Autoren beurteilen die Ergebnisse eindeutiger und kommen zu dem Schluss, dass das SSRI Fluoxetin weder zur Prävention einer postinfarziellen Depression noch zur Förderung der Rehabilitation von funktionellen motorischen Defiziten routinemäßig empfohlen werden kann.

Fazit: Der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluoxetin führt nicht zu besseren funktionellen motorischen Ergebnissen nach einem Schlaganfall mit persistierenden Ausfällen. Er senkt geringfügig die Häufigkeit postinfarzieller Depressionen, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit für Knochenfrakturen. Eine routinemäßige Gabe von Fluoxetin oder anderen Antidepressiva bei akutem Schlaganfall ist daher nicht zu empfehlen.

Literatur

  1. Chollet, F., et al. (FLAME = Fluoxetine on motor rehabilitation after ischemic stroke): Lancet Neurol. 2011, 10, 123. Link zur Quelle Erratum: Lancet Neurol. 2011, 10, 205.
  2. https://www.dgn.org/presse/ pressemitteilungen/1561-antidepressivum -verbessert-die-rehabilitation-nach-schlaganfall Link zur Quelle
  3. FOCUS Trial Collaboration (Effects of fluoxetine on functional outcomes after acute stroke): Lancet 2019, 393, 265. Link zur Quelle
  4. http://www.strokecenter.org/wp-content/ uploads/2011/08/modified_rankin.pdf Link zur Quelle
  5. AMB 2010, 44, 10. Link zur Quelle
  6. van der Worp, H.B.: Lancet 2019, 393, 206. Link zur Quelle
  7. Mead, G., et al.: Trials 2015, 16, 369. Link zur Quelle