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Antidepressiva und Antipsychotika: Auswirkungen auf Körpergewicht und Metabolismus

Zusammenfassung: Die Einnahme von Antidepressiva und besonders von Antipsychotika ist mit teilweise erheblichen Gewichtszunahmen und metabolischen Veränderungen assoziiert sowie mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus. Bei der Auswahl der Wirkstoffe sollte daher auch der metabolische Status der Patienten mitberücksichtigt werden. Zu Beginn und während der Therapie sollten regelmäßig der Body-Mass-Index (BMI), sowie der Blutzucker und das Lipidprofil kontrolliert werden. Bei sehr ungünstigen Veränderungen dieser Parameter sollte die Therapie nach Möglichkeit modifiziert werden. Alle Patienten müssen über diese bedeutsamen Nebenwirkungen der Psychopharmaka aufgeklärt werden.

Laut WHO bestehen bei rund 433 Mio. Menschen psychische Störungen. Am häufigsten (> 300 Mio. Betroffene) sind es Depressionen (1). Die Verordnungen von Psychopharmaka haben stark zugenommen. In Deutschland wurden Antidepressiva (AD) in den letzten 10 Jahren um 40% und Antipsychotika (AP) um 15% häufiger verordnet (2). Der vielfältige Einsatz von AD und AP, häufig „Off label“ bei Indikationen wie Schmerz, Schlaf-, Angst-, Ess- und Somatisierungsstörungen, trägt sicherlich erheblich zu diesen Steigerungen bei (vgl. 3, 35). Auch global nehmen die Verordnungen von Psychopharmaka zu, nicht zuletzt, weil immer mehr Betroffene Zugang zu diesen Arzneimitteln erhalten. In den wirtschaftsstarken Industrieländern werden etwa 50% der psychisch Erkrankten spezifisch medikamentös behandelt, in den Entwicklungsländern liegt dieser Anteil bei 15% (1).

Auf die vielfältigen Nebenwirkungen und das oft unklare Nutzen-Risiko-Verhältnis von Psychopharmaka haben wir immer wieder hingewiesen (4). Eine besonders häufige und klinisch bedeutsame Nebenwirkung vieler Psychopharmaka ist die Zunahme des Körpergewichts. Seltener, beispielsweise unter Bupropion, kann es auch zu einer Gewichtsabnahme kommen (5). Psychopharmaka greifen in unterschiedlicher Weise in den Gehirnstoffwechsel ein, auch in Prozesse, die an der Regulierung von Appetit, Nahrungsaufnahme und -verwertung und dem Bewegungsdrang beteiligt sind. Auch periphere Effekte sind bekannt, wie Veränderungen im intestinalen Mikrobiom und bei der Energieverwertung (6, 7). Diese Nebenwirkungen und natürlich krankheitsbedingte Auswirkungen tragen dazu bei, dass psychisch Kranke 10-20 Jahre früher sterben als Gesunde (8). Zu den vermehrt auftretenden und die Prognose verschlechternden Komorbiditäten gehören kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD; ca. 30%), Diabetes mellitus (10%) und Krebs (ca. 14%).

Bei der Entstehung von CVD und Diabetes mellitus spielt die Gewichtszunahme eine wichtige Rolle. Dabei sind das Risiko und das Ausmaß der Gewichtszunahme bei den verschiedenen psychischen Erkrankungen und den verwendeten Psychopharmaka unterschiedlich.

Depression und Antidepressiva: Bei Depressionen kommt es, auch unabhängig von der medikamentösen Behandlung, häufig zu Veränderungen von Appetit, Ess- und Bewegungsverhalten und somit zu Gewichtsschwankungen (9). Gewichtsverlust ist auch ein Zusatzkriterium für die Diagnose einer depressiven Episode (10). Mittel- und längerfristig steigt bei depressiven Menschen, wie auch in der Gesamtbevölkerung, das Risiko für Übergewicht. Die US-amerikanische CARDIA-Studie zeigte beispielsweise bei jungen Erwachsenen mit Depressionen eine deutliche Zunahme des BMI um 7 kg/m2 und des Bauchumfangs um 10 cm innerhalb von 20 Jahren, wobei die Schwere der Symptomatik zu Beginn der Erkrankung ein wichtiger Prädiktor war (11). Eine Metaanalyse mehrerer Längsschnittstudien ergab eine bidirektionale Assoziation zwischen Übergewicht und Depression. Demnach erhöht Adipositas das Risiko für Depressionen um 55% und Depressionen erhöhen das Risiko für Adipositas um 58% (12). Aber auch viele Arzneimittel zur Depressionsbehandlung erhöhen das Risiko für Übergewicht. Eine Unterscheidung, was krankheitsbedingt und was eine NW ist, ist schwer.

Nach einem systematischen Review aus dem Jahre 2016 ist eine Langzeittherapie mit AD mit einer Gewichtszunahme von > 5% assoziiert (9). Die Korrelation ist besonders hoch für die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Sertralin und Fluoxetin sowie für Mirtazapin (s. Tab. 1). Auch unter einer Langzeit-Behandlung mit trizyklischen AD kommt es zu einer Gewichtszunahme, im Mittel um 2,8 kg und mit Lithium in der Langzeitbehandlung von bis zu 10 kg. Dagegen wurde für Duloxetin und Venlafaxin kein Zusammenhang mit der Zunahme des Körpergewichts gefunden (13).

Als Risikofaktoren für eine starke Gewichtszunahme unter AD gelten ein niedriger oder normaler BMI (≤ 25 kg/m2), Nebenwirkungen der Medikamente, ein hoher Schweregrad der Depression (Wert auf der Hamilton-17-Skala > 20) und psychotische Symptome während der depressiven Episode (14). In der S3-Leitlinie Unipolare Depression werden als gewichtserhöhende AD explizit Mirtazapin, Mianserin, sedierende trizyklische AD und das Phasenprophylaktikum Lithium genannt (10). Die britische Gesellschaft für Psychopharmakologie und das NICE (National Institute for Health and Care Excellence) empfehlen bei Therapiebeginn mit AD Gewichtskontrollen nach 3 und 6 Monaten, danach jährlich (15).

Antipsychotika: Alle AP haben das Potenzial für eine starke Gewichtszunahme (16). Besonders ausgeprägt ist sie bei Clozapin, Zotepin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Aripiprazol und Amisulprid (vgl. Tab. 1). Ein systematisches Review ergab für die häufig verwendeten Medikamente Quetiapin, Haloperidol, Risperidon, Olanzapin und Clozapin eine Gewichtszunahme von > 7% des Körpergewichts (17). Dieser Effekt von AP ist dosisabhängig und bei Frauen ausgeprägter als bei Männern. Das Körpergewicht nimmt meist schon innerhalb der ersten 6 Wochen zu.

Bei dem sehr häufig verordneten Quetiapin kam es in einer retrospektiven Kohortenstudie im Rahmen der Primärversorgung in den ersten 6 Wochen unter einer Dosis von > 75 mg/d (lt. Zulassung werden bei Schizophrenie Tagesdosen von 300-600 mg empfohlen) bei Frauen zu einer Gewichtszunahme von 2,3 kg und bei Männern von 1,6 kg. Mit noch niedrigeren Dosen (meist bei der Off-label-Verordnung bei Schlaf- und Angststörungen; vgl. 35) betrug die Gewichtszunahme 0,7 bzw. 0,5 kg (18). Bei US-Veteranen führte länger verordnetes Quetiapin in niedriger Dosis (im Mittel 116 mg/d über 3,5 Jahre) zu einer Gewichtszunahme von 2 kg und einer Erhöhung des systolischen und diastolischen Blutdrucks um 1,9 mm Hg und des Nüchternblutzuckers um 6,7 mg/dl (19).

Der Gewichtszunahme unter AP liegen Veränderungen bei Adipokinen, Leptin, Inkretinen, verschiedenen Neuropeptiden und eine Beta-Zell-Hyperstimulation zugrunde (12). Direkt (über Interaktionen mit Rezeptoren) oder indirekt (durch Gewichtszunahme und körperliche Inaktivität) verursachen AP Fettstoffwechselstörungen und eine pathologische Glukosetoleranz und erhöhen das Risiko für ein metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus. Entsprechend haben Menschen mit chronischen psychotischen Erkrankungen eine 3-5-mal höhere CVD-Morbidität und eine doppelt so hohe Mortalität wie die Normalbevölkerung (16).

Als Risikofaktoren für eine insgesamt starke Gewichtzunahme unter AP gelten eine rasche Gewichtszunahme in den ersten Behandlungswochen, ein niedriger oder normaler Ausgangs-BMI (≤ 25 kg/m2), eine schwere begleitende Depression (Wert auf der Hamilton-17-Skala > 20), eine familiäre Belastung für Adipositas, hohe Dosen und eine lange Behandlungsdauer (20). Die britische Gesellschaft für Psychopharmakologie und das NICE empfehlen daher zu Therapiebeginn die Berechnung des BMI und die Messung metabolischer Parameter (Blutzucker, Lipidprofil) sowie des Blutdrucks. Sollte es unter AP zu einer Gewichtszunahme > 5% und/oder zu ungünstigen Veränderungen im Lipid- oder Glukosestoffwechsel kommen, ist ein Wechsel auf ein AP mit geringerem Risiko in Erwägung zu ziehen (7).

Möglichkeiten zur Minderung des Risikos: Grundsätzlich ist es wichtig, bei Patienten mit hohem Risiko für Gewichtszunahme oder einem bereits bestehenden metabolischen Syndrom möglichst gewichtsneutrale AP oder AD zu wählen. Zu Therapiebeginn sind kurzfristige und im Verlauf regelmäßige Kontrollen von Gewicht, Blutdruck und Stoffwechselparametern (Nüchtern-Blutzucker, Serumlipide) empfehlenswert, und ggf. muss die Therapie angepasst werden (Wechsel des Präparats, Änderung der Dosis). Zu präventiven nicht medikamentösen Interventionen, wie Verhaltenstherapie oder Diäten, gibt es keine Studien und entsprechend auch keine Empfehlungen (21, 22). Der Einsatz von Arzneimitteln zur Gewichtsabnahme oder beispielsweise von Metformin erfolgt „off label“ und ist Gegenstand von Forschung (21).

Literatur

  1. WHO Depression and other common mental disorder, Global Health Estimates 2017. Link zur Quelle (Zugriff am 27.2.2020).
  2. Lohse, M.J., und Müller-Oerlinghausen, B.: Psychopharmaka. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  3. AMB 2020, 54, 10. Link zur Quelle
  4. AMB 2017,51, 70 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 52. Link zur Quelle
  5. Gafoor, R., et al.: BMJ 2018, 361, k1951. Link zur Quelle
  6. Kaar, S.J., et al.: Neuropharmacology 2019, Jul. 9, 107704. Link zur Quelle
  7. Cooper, S.J., et al.: J. Psychopharmacol. 2016, 30, 717. Link zur Quelle
  8. Shi, Z., et al.: BMJ Open 2017, 7, e016224. Link zur Quelle
  9. Alonso-Pedrero, L., et al.: Obes. Rev. 2019, 12, 1680. Link zur Quelle
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