Eine wichtige Diskussion findet seit einigen Wochen im British Medical Journal statt. In der Ausgabe vom 23. März 2002 hat die Medizinjournalistin Jeanne Lenzer die Amerikanische Herzgesellschaft (AHA) wegen der Leitlinien zur Thrombolysetherapie des Schlaganfalls mit Alteplase stark angegriffen (1). Sie warf der AHA vor, ungerechtfertigt im August 2000 ihre Empfehlungen zur Thrombolysetherapie beim akuten Schlaganfall aufgewertet zu haben, und zwar von vormals einer Klasse-IIb- (zweifelhafter Nutzen) zu einer Ia-Empfehlung (nachgewiesener Nutzen bzw. generelle Übereinkunft, daß die Therapie effektiv und hilfreich ist).
Einige Kritikpunkte von J. Lenzer an dieser Aufwertung sind, daß die täglichen klinischen Erfahrungen (2) und die Mehrzahl randomisierter Studien (s. AMB 1996, 30, 12 und 62; 1998, 32, 17) gezeigt haben, daß die Wahrscheinlichkeit, an einem Schlaganfall zu sterben, durch die Thrombolysetherapie ansteigt. Diese Tatsache werde in der AHA-Leitlinie nicht ausreichend berücksichtigt. Das positive Votum der einflußreichen Fachgesellschaft basiere im Wesentlichen auf nur einer Studie (NINDS-TPAST, 3), die aus mehreren Gründen kritisiert wird. So sollen die Schlaganfallpatienten zu Beginn der Lysetherapie weniger stark ausgeprägte neurologische Symptome gehabt haben als die mit Plazebo behandelten. Durch diesen „Studienbias“ könne zumindest ein Teil des positiven Effekts der Thrombolysetherapie erklärt werden. Andere Untersuchungen, wie die Observationsstudie STARS (4) und ATLANTIS (5), wurden als positives Argument in die Entscheidung der AHA mit einbezogen, obwohl erhebliche methodische Mängel bestünden und sie ohne Ausnahme von den Herstellerfirmen von Alteplase (Genentech, Boehringer Ingelheim) bezahlt wurden. Als erschwerend für eine objektive Beurteilung wird gewertet, daß die Herstellerfirma und die „Principal Investigators“ von NINDS-TPAST und ATLANTIS sich weigern, die Rohdaten ihrer Studien herauszugeben und daß es im Falle von ATLANTIS auch zu erheblichen Unregelmäßigkeiten bei der Publikation gekommen ist.
Lenzer hat recherchiert, daß die AHA in den 90er Jahren von Genentech ca. 11 Mio. US$ erhalten hat; davon flossen 2,5 Mio. in den Bau ihrer neuen Zentrale in Dallas. In dieser Zeit hat die AHA ihre „Brain-Attack“-Kampagne initiiert, die auch in Deutschland zu erheblichen strukturellen Veränderungen geführt hat (z.B. Schaffung von Stroke Units, Schlaganfall-NAW). Das zentrale Anliegen der Kampagne war es, bei Patienten und Ärzten ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß der Schlaganfall ein Notfall ist wie der Herzinfarkt mit ähnlichen Therapieoptionen. Zentraler inhaltlicher Punkt der Kampagne war die Thrombolysetherapie innerhalb von 3 Stunden nach Beginn der Symptome. Die AHA schrieb 1999 in ihrem Jahresbericht: „… Es wird geschätzt, daß tPA bei ca. 400000 Schlaganfall-Patienten jährlich angewendet werden könnte, um Leben zu retten, Behinderungen zu vermindern und Lähmungen zurückzubilden …“. Die Aussage, daß tPA Leben retten kann, mußte später zurückgezogen werden, da sich hierfür keine Beweise erbringen ließen.
Das Votum der AHA-Experten für die Aufwertung der Lysetherapie beim akuten Schlaganfall in eine Klasse-I-Indikation fiel mit 8:1 Stimmen eindeutig aus. Sechs von acht dieser positiv wertenden Experten hatten nachweislich finanzielle Verbindungen zu den Herstellern von Alteplase. Die ausführliche Begründung des negativ votierenden Experten wurde niemals publiziert. Er bestand übrigens darauf, daß sein Name nicht in den Guidelines erscheinen sollte.
Andere große Fachgesellschaften kommen zu wesentlich zurückhaltenderen Bewertungen der Lysetherapie als die AHA, und auch die Cochrane-Collaboration urteilt in diesem Jahr, daß die publizierten Daten zwar ermutigend seien, ein routinemäßiger Gebrauch aber derzeit nicht zu empfehlen sei (6).
Drei Professoren der Universität von Kalifornien nehmen zu den Vorwürfen in derselben Ausgabe des Br. Med. J. Stellung („Thrombolysis in Stroke: it works!“; 11). Sie müssen allerdings ihre Nähe zur Industrie bekennen und eine Vielzahl (insgesamt 81!) finanzieller Zuwendungen, u.a. von Genentech und Boehringer Ingelheim, deklarieren. Hierzu merken sie an, daß erst die Tatsache, daß Wissenschaftler überhaupt Zuwendungen von der Industrie erhalten, sie als kompetent ausweisen. Die Forderung von J. Lenzer, daß nur finanziell unabhängige Experten Leitlinien erstellen sollten („Extreme financial correctness“), wird als Luftschloß zurückgewiesen. Experten, die keine Forschungsgelder erhalten, seien nicht am Puls der Entwicklung und verstünden daher zu wenig von der zu beurteilenden Materie.
Inhaltlich wird darauf hingewiesen, daß es nicht eine, sondern sechs Studien gäbe, die zweifelsfrei nachgewiesen hätten, daß die tPA-Lyse, wenn sie innerhalb von 3 Stunden erfolgt, einen Nutzen bringt. Die gepoolten Daten wiesen mit hoher statistischer Power (p = 0,00002) eine absolute Risikoreduktion von 13% nach, und die „Number needed to treat“ betrage 9. Die sechs zitierten randomisierten Studien erweisen sich jedoch als nur 3 Studien (ATLANTIS, ECASS, NINDS-TPAST: 3, 5, 7), wobei jeweils eine Subgruppen-Analyse als eigenständige Studie hingestellt wird (8, 9). In Anbetracht der Häufigkeit von Schlaganfällen in den Notaufnahmen müssen diese Studien zahlenmäßig als völlig unterdimensioniert gelten. Insgesamt wurden nämlich die Behandlungsergebnisse von nur 465 Patienten, die mit tPA behandelt wurden, gepoolt und zur Grundlage der Klasse-I-Empfehlung der AHA. Zum Vergleich: bevor die Thrombolyse beim Herzinfarkt empfohlen wurde, sind viele tausend Patienten im Rahmen von Megastudien thrombolytisch behandelt worden, und noch heute sind diese Empfehlungen im Fluß.
Die Diskussion um die Objektivität von Leitlinien ist notwendig. Ärzten wird es heute leider nicht leicht gemacht, an objektive Informationen zu gelangen. Täglich werden sie von verschiedenen Seiten mit „Informationen“ zur zeit- und sachgemäßen Diagnostik und Therapie konfrontiert. Diese Ratschläge kommen ungefragt von sogenannten Experten und Fachgesellschaften, die selten unabhängig sind und in der Mehrzahl vorwiegend der Meinungsmanipulation, also der Werbung, dienen. Leitlinien sollten eigentlich in diesem Meer von Informationen ein Orientierungspunkt sein.
Wie wir schon oft dargelegt haben, stehen zu viele Experten auf den Gehaltslisten der Industrie (hier sind nicht die sog. Drittmittel gemeint; s.a. AMB 2002, 36, 31). Wenn diese Verbindungen so weit gehen wie bei den drei Wissenschaftlern der Universität von Kalifornien, dann ist ihre Meinung, quasi aus formalen Gründen, prinzipiell als befangen abzulehnen. Auch viele Fachgesellschaften und ihre Sprecher werden von der Industrie installiert und finanziert und sind somit nur ihre Erfüllungsgehilfen (”habilitierte Pharmareferenten”) bzw. erfüllen einen Selbstzweck. Leider besteht hier keine Deklarationspflicht für die Abhängigkeiten und somit auch keinerlei Transparenz.
Wenn man über diese Manipulationsprozesse nachdenkt, wächst der Wunsch nach einer ordnenden Hand. Aber wer könnte eine solche Aufgabe übernehmen? Besonders effektiv, wenn auch nicht immer ganz fair, sind Verbraucherschutz-Vereinigungen. Solche Institutionen gibt es in den USA (z.B. „Public Citizen“, 10). Sie überwachen nicht nur den Medizinmarkt, sondern auch die Ernährungsindustrie, die Medien und die Politik. Mißstände werden in einer in Deutschland undenkbaren Offenheit angeprangert und Roß und Reiter genannt. Auf diesem Sektor ist Deutschland noch Entwicklungsland. Leider behindern unsere Gesetze auch derartige Aktivitäten. Trotzdem besteht die Hoffnung, daß im Rahmen der Verbesserung des Verbraucherschutzes vergleichbare Plattformen entstehen.
Ein anderer Weg sind staatliche Institutionen wie das britische NICE (National Institute of Clinical Excellence), die sich um eine objektive Beurteilung von Therapieverfahren bemühen. NICE führt auch dringend notwendige Berechnungen zur Kosteneffektivität durch, was bei uns oft als „unethisch“ angesehen wird, aber in den Zeiten der Budgetierung unerläßlich ist. Natürlich werden auch die Urteile von NICE heftig kritisiert, teilweise zu Recht, meist aber zu Unrecht. Trotzdem scheint ein solches Instrument gerade in Deutschland sinnvoll, um uns Ärzten mehr Orientierung zu geben. Es gibt z.B. einen ”Koordinierungsauschuß”, der die Entscheidungen der Bundesausschüsse und des Ausschusses Krankenhaus koordinieren soll. Dieser Ausschuß hat kürzlich inhaltlich-kritisch zur nationalen Leitlinie Diabetes Stellung genommen (12). Entwickelt sich hier eine Institution, wie wir sie brauchen?
Fazit: Die Thrombolysetherapie beim akuten Schlaganfall innerhalb von 3 Stunden nach Beginn der Symptome ist eine Therapieoption, die noch in weiteren prospektiven Studien evaluiert werden muß. Die bisherigen Studiendaten reichen unserer Meinung nach nicht aus, um eine generelle positive Empfehlung, wie sie von der AHA formuliert wurde, auszusprechen. Auch Leitlinien und ihre Verfasser unterliegen, wie dieses Beispiel zeigt, dem Einfluß merkantiler Interessen. Beide müssen daher sehr kritisch beobachtet werden.
Literatur
- Lenzer, J.: Br. Med. J. 2002, 324, 723.
- Katzan, I.L., et al.: JAMA 2000, 283, 1151.
- NINDS-TPAST = National Institute of Neurological Disorders and Stroke – recombinant Tissue Plasminogen Activator Stroke Trial: N. Engl. J. Med. 1995, 333, 1581.
- Albers, G.W. (STARS = Standard Treatment with Alteplase to Reverse Stroke): JAMA 2000, 83, 1145.
- Clark, W., et al. (ATLANTIS = Alteplase ThromboLysis for Acute Noninterventional Therapy in Ischemic Stroke): Stroke 2000, 31, 811.
- Wardlaw, J.M., et al.: Cochrane Database Syst. Rev. 2002, 2, CD000213.
- ECASS I = European Cooperative Acute Stroke Study I: JAMA 1995, 274, 1017.
- Steiner, T., et al. (ECASS 3-hour cohort study): Cerebrovasc. Dis. 1998, 4, 198.
- Albers, G.W. (ATLANTIS 3-hour study): Stroke 2002, 33, 493.
- www.citizen.org
- Saver, L.J., et al.: Br. Med. J. 2002, 324, 727.
- Dtsch. Ärztebl. 2002, 99, B 1376 und 1378.