Am Beispiel fehlerhafter Brustimplantate (1), Zertifizierung von Hüftendoprothesen, die real gar nicht existierten (2), katheterinterventioneller Herzklappen (3) und anderer kardiovaskulärer Implantate (4) haben wir mehrfach über die völlig unzulänglichen Zulassungsprozesse bei implantierbaren Medizintechnikprodukten berichtet. Insbesondere das dezentrale europäische System der CE-Zertifizierung durch sogenannte „Benannte Stellen“ („Notified bodies“) ist nicht transparent und kaum zu kontrollieren (1-3). Die zentrale US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA legt zwar wesentlich strengere Maßstäbe an, steht aber auch vor der Herausforderung, dass Evidenz zu Nutzen und Gefahren von Implantaten nicht nach denselben Kriterien wie bei Arzneimitteln gewonnen werden kann (4).
Eine kürzlich in JAMA publizierte Studie hat die Wege analysiert, auf denen die Hersteller elektronischer kardialer Implantate (Schrittmacher = SM; implantierbare Defibrillatoren = ICD; Geräte für die kardiale Resynchronisation = CRT) bei der FDA Zulassungen für Neuerungen an ihren bereits auf dem Markt befindlichen Produkten beantragen können (5).
Dazu ein kurzer Überblick über den Zulassungsprozess bei der FDA für Hochrisiko-Produkte, d.h. lebenserhaltende oder prophylaktische Systeme oder solche, die besonders gefährlich sind: Die Erstzulassung erfolgt über ein Premarket Approval (PMA) unter Berücksichtigung präklinischer und klinischer Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts. Spätere Änderungen an bereits zugelassenen Produkten werden über sogenannte PMA-Supplements geregelt. Diese reichen von einfachen Routineänderungen an Verpackung und Material über Anpassungen der Gebrauchsinformation bis hin zu größeren technischen Änderungen am Produkt selbst. Sie werden je nach Tragweite in fünf Kategorien unterteilt, um den bürokratischen und finanziellen Aufwand für die Hersteller differenziert zu gestalten und (kleinere) Änderungen möglichst rasch den Patienten zugute kommen zu lassen. Zur besseren Übersichtlichkeit seien diese hier vereinfacht von I bis V kategorisiert (vgl. Tab. 1).
Ergebnisse: Die Studie analysierte über die öffentlich einsehbare FDA-Database die PMAs und PMA-Supplements aller von 1979 bis 2012 zugelassenen kardialen elektronischen Implantate. In diesem Zeitraum wurden 77 PMAs erteilt, die insgesamt 5829 PMA-Supplements nach sich zogen mit folgendem Verteilungsmuster: 47% Kategorie I, 2% Kategorie II, 26% Kategorie III, 23% Kategorie IV und 0,2% Kategorie V (2% sind aufgrund fehlender Daten nicht zuzuordnen).
Bemerkenswert sind die zeitlichen Abläufe während des Beobachtungszeitraums: Das letzte PMA für ein transvenöses ICD-System wurde im Jahr 2000 (!) erteilt. Alle seither neu zugelassenen ICD-Systeme waren also offiziell nur „Supplements“ bestehender Systeme. Die Autoren recherchierten, dass sämtliche (!) aktuell angebotenen ICD-Sonden und ICD-Pulsgeneratoren der großen Hersteller (Biotronik, Boston Scientific, Medtronic, Sorin Group, St. Jude Medical) trotz neuer Technologien und z.T. neuer Produktnamen lediglich auf Kategorie-III- oder -IV-Supplements von Vorgängermodellen beruhten. Dies trifft auch auf die ICD-Sondensysteme Medtronic Sprint Fidelis und St. Jude Riata zu, die 2007 bzw. 2011 wegen schwerwiegender Fehlfunktionen, z.T. mit gravierenden Folgen für Patienten, von Rückrufaktionen betroffen waren.
Innerhalb der letzten Dekade stieg die mittlere Zahl der jährlichen Supplements pro PMA von ca. 2,5 auf ca. 11, wobei dieser Anstieg ausschließlich durch Kategorie-I-Supplements bedingt war. Die ohnehin nur marginal vertretenen Kategorien II und V blieben konstant. Die Kategorie-IV-Supplements wurden aber zum Großteil durch Kategorie-III-Supplements abgelöst, so dass diese beiden Kategorien in der Summe konstant blieben.
Warum die Supplement-Kategorien IV und insbesondere III für die Hersteller interessant sind, ist offensichtlich: Sie ermöglichen relativ kostengünstig und mit wenig Aufwand sukzessive Veränderungen am technischen Design des Produkts, denn es sind kaum klinische Daten und kein unabhängiges Expertengremium erforderlich. Allein mit dieser Zielsetzung wurden von der FDA seit Bestehen dieser beiden Kategorien 1997 insgesamt 542 Kategorie-IV-Supplements und 1170 Kategorie-III-Supplements zugelassen. Die oben genannten Hersteller nutzen überwiegend den für sie einfacheren und kostengünstigeren Weg der Kategorie-III-Supplements (Biotronik: 58%; Medtronic 67%; St. Jude 77%; Boston Scientific 85%). Zu den Daten, die der Supplement-Kategorie IV zugrunde liegen, werden erst seit 2010 (!) ausführlichere Protokolle („Review Memos“) geführt. Diese waren laut den Studienautoren nur für etwa zwei Drittel aller Anträge verfügbar; davon beriefen sich nur 15 Memos (23%) überhaupt auf neue klinische Daten, neun lieferten keine Beschreibung des Studiendesigns, acht nicht einmal die Zahl der Studienpatienten.
In der Diskussion geben die Autoren zu bedenken, dass der Mangel an klinischen Daten nicht zwangsläufig auch ein Mangel an Qualität sein muss. In gewissen (technischen) Bereichen sind präklinische Daten den klinischen Studien sogar überlegen, so z.B. die automatische mechanische Testung von ICD-Sonden oder die nur im Tiermodell mögliche wiederholte Auslösung von Arrhythmien. Insgesamt sollten sich aber Ärzte und Patienten bewusst sein, dass im Rahmen der Zulassungsprozesse nach dem gegenwärtigen PMA-Supplement-Konzept nur in Ausnahmefällen Daten gesammelt werden, die klinisch valide sind. Die potenziellen Vorteile neuer Medizintechnikprodukte müssen sorgfältig gegen mögliche Risiken abgewogen werden, insbesondere wenn es sich um lebenswichtige Implantate handelt und etablierte Alternativen vorhanden sind.
Zudem gibt es Hinweise, dass die Supplement-Kategorien von den Herstellern in sehr unterschiedlicher Weise genutzt werden, um Änderungen an Produkten genehmigen zu lassen. Eine Kontrolle über die Einhaltung von Standards existiert nicht.
Diskussion: Bei elektronischen kardiovaskulären Implantaten (Schrittmacher, ICD) werden die im Vergleich mit den europäischen Verhältnissen deutlich strengeren regulatorischen Bestimmungen der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA offenbar systematisch von den Herstellern unterlaufen. Administrative Wege, die dazu dienen sollen, kleinere Verbesserungen an bereits zugelassenen Produkten rasch umsetzen zu können, werden missbraucht für so genannte Nachfolgeprodukte, die teilweise mit dem initialen Produkt nur wenig gemeinsam haben. Diese Praxis kann auch Patienten gefährden und hat z.B. in den vergangenen Jahren zu Rückrufaktionen von ICD-Sonden geführt. Die potenzielle Gefährdung von Patienten zeigt, wie dringlich unsere Forderung von 2012 nach einer konsequenten Vigilanz auch bei Implantaten ist, analog zur Pharmakovigilanz zugelassener Arzneimittel (1, 2). Eine zentrale Zulassungsstelle für Medizintechnikprodukte auch für Europa halten wir für unabdingbar. Diese sollte in regelmäßigen Abständen von unabhängigen Expertengremien prüfen lassen, ob Anforderungen an die Zulassung von Medizinprodukten auch von neuen Modellen desselben Produkts noch erfüllt werden.
Zusätzlich müssen die Krankheitsverläufe von Patienten nach der Implantation neuartiger Medizinprodukte (Kategorie IV und V) herstellerunabhängig in Registern dokumentiert werden. Solche Register könnten die dringend benötigten Informationen zur Häufigkeit von Komplikationen, Re-Operationen und Austausch von Implantaten und damit auch frühe Hinweise auf Qualitätsmängel geben. Es gibt bereits erfolgversprechende Projekte, bei denen die notwendigen Informationen systematisch aus den Routinedaten der Krankenversicherer gewonnen werden (6-8). Diese Strategie sollte sich gegen alle Widerstände durchsetzen!
Fazit. Die Qualitätskontrolle von Medizinprodukten ist nach wie vor sowohl in den USA als auch in Europa völlig unzureichend. Eine zentrale Zulassungsbehörde wie bei Arzneimitteln gibt es in Europa nicht. Es fehlt auch eine Instanz, die kontrolliert, ob Standards eingehalten werden, und die den Gesundheitszustand von Patienten mit komplexen neuartigen Implantaten weiterverfolgt. Initiativen der Fachgesellschaften, Kostenträger und des Gesetzgebers müssen intensiv unterstützt werden.
Literatur
- AMB 2012, 46, 15a.Link zur Quelle
- AMB 2012, 46,88DB01. Link zur Quelle
- AMB 2012, 46, 89. Link zur Quelle
- AMB 2010, 44, 09. Link zur Quelle
- Rome, B.N., et al.: JAMA2014, 311, 385. Link zur Quelle
- Southworth,M.R., et al.: N. Engl. J. Med. 2013, 368, 1272 Link zur Quelle .AMB 2013, 47, 40DB01. Link zur Quelle
- http://mini-sentinel.org/Link zur Quelle
- Krankenhaus-Report 2003. Schattauer,Stuttgart. Kap. 14; Link zur Quelle