Viele ältere Patienten mit einer Indikation zur oralen Antikoagulation (OAK) mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) werden wegen Befürchtungen von Blutungen nicht mit diesen Wirkstoffen behandelt. Tatsächlich steigt das Blutungsrisiko mit dem Alter an, z.B. wegen häufigerer Komorbiditäten, Multimedikation oder wegen eines erhöhten Sturzrisikos. Zugleich steigt aber mit dem Lebensalter auch das Risiko für Thrombosen deutlich an, so dass letztlich bei Patienten im hohen Lebensalter nicht klar ist, ob der Nutzen die Nachteile einer OAK mit VKA überwiegt.
Zu dieser Frage hat eine Arbeitsgruppe aus den Niederlanden eine retrospektive Kohortenstudie durchgeführt (1). Sie ermittelte den klinischen Verlauf von über 3.300 älteren Patienten, die zwischen Januar 2009 und Juni 2012 mit einem VKA antikoaguliert worden waren. Alle Patienten wurden vom „Certe Thrombosis Service“ (CTS) in Groningen betreut. Diese große Gerinnungsambulanz ermittelt standardisiert mit Hilfe eines Computeralgorithmus nach Übermittlung der aktuellen INR-Werte ein individuelles VKA-Dosierungsschema. Die Patienten erhalten das Schema sowie die Termine für Folgemessungen per Post zugesandt. Außerdem werden sie vom CTS standardisiert nachverfolgt, d.h. alle Blutungskomplikationen, Thromboseereignisse, Unterbrechungen der Behandlung und Todesfälle werden von Ärzt(inn)en des Zentrums ermittelt und analysiert.
Für die Studie wurden drei Kohorten miteinander verglichen: Patienten ≥ 90 Jahre (n = 1.109), Patienten zwischen 80-89 Jahren (n = 1.100) sowie zwischen 70-79 Jahren (n = 1.104). Die ≥ 90-Jährigen dienten für die statistischen Analysen als „Fälle“. Jedem Fall wurden zwei Patienten als „Kontrollen“ zugewiesen: je ein Patient zwischen 70 und 79 Jahren und zwischen 80 und 89 Jahren. Das Matching dieser Kontrollen erstreckte sich nur auf die Tatsache, ob der Patient neu auf VKA eingestellt wurde oder eine Dauertherapie hatte. Außerdem musste der Zeitpunkt des Eintritts in die Studie ähnlich sein, um eine vergleichbare Dauer der Nachbeobachtung zu erhalten. Ausschlusskriterien wurden nicht definiert, um möglichst viele Patienten vergleichen zu können.
Primärer Studienendpunkt war eine Kombination von klinisch relevanten Blutungen. Sekundäre Endpunkte waren u.a. thromboembolische Ereignisse, ein Absetzen der OAK wegen Blutungen und die Qualität der INR-Einstellung.
Ergebnisse: Der Datenanalyse liegen 6.419 beobachtete Patientenjahre bei 3.313 Patienten zu Grunde. Hieraus errechnet sich eine durchschnittliche Nachbeobachtung von knapp zwei Jahren. Gut zwei Drittel der Patienten wurden wegen Vorhofflimmerns antikoaguliert. Zur OAK wurde fast ausschließlich Acenocoumarol verwendet (97,8%). Die INR-Einstellung war mit zunehmendem Lebensalter schwieriger: Der Anteil der Messungen, bei denen sich die Patienten im gewünschten therapeutischen Bereich befanden, betrug in den drei Kohorten im Mittel 73,5% (70-79 Jahre), 71,1% (80-89 Jahre) und 66,4% (≥ 90 Jahre). Die Über-90-Jährigen waren signifikant häufiger über- (17,4%) bzw. unterantikoaguliert als die Jüngeren (16,2%).
Die klinischen Ereignisse sind in Tab. 1 wiedergegeben. Insgesamt wurden 1.050 klinisch relevante Blutungsereignisse erfasst: 64 Major- und 986 Non-Major- Blutungen. Am häufigsten kam es zu Haut- und Nasenblutungen, gefolgt von Blutungen aus dem Urogenital- und Gastrointestinaltrakt. Diese Verteilung war in allen drei Altersgruppen gleich. Die Blutungswahrscheinlichkeit stieg mit dem Lebensalter an (14,8, 16,7 und 18,1 pro 100 Patientenjahre in den drei Kohorten). Im Vergleich zur jüngsten Kohorte hatten die ≥ 90-Jährigen ein um 26% höheres Blutungsrisiko: Hazard ratio = HR: 1,26; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,05-1,50. Im Vergleich mit der mittleren Kohorte war das Blutungsrisiko gleich: HR: 1,07; CI: 0,89-1,27.
Nach einer rechnerischen Adjustierung an die INR-Werte war das Blutungsrisiko der ≥ 90-Jährigen gegenüber den Patienten zwischen 70-79 Jahren nicht mehr signifikant erhöht, d.h. nicht das Alter per se, sondern die Qualität der INR-Einstellung scheint das Risiko zu definieren.
Die Inzidenz von schweren oder tödlichen Blutungen unterschied sich nicht zwischen den drei Altersgruppen (s. Tab. 1). Die immer wieder als Kontraindikation für eine OAK bei Hochbetagten ins Feld geführte (traumatische) Hirnblutung trat nicht wesentlich häufiger ein (0,3 vs. 0,4 vs. 0,5 Ereignisse pro 100 Patientenjahre).
In Subgruppenanalysen zeigten sich – nicht überraschend – in allen drei Kohorten häufiger Blutungen bei der Neueinstellung auf VKA, v.a. in den ersten 30 Tagen. Eine weiteres, schwer zu erklärendes Ergebnis ist, dass das Blutungsrisiko bei Männern mit zunehmendem Alter stärker zunahm als bei Frauen.
Thromboembolien waren insgesamt selten: 85 Patienten (2,6%) erlitten im Beobachtungszeitraum trotz OAK ein thromboembolisches Ereignis. Die Wahrscheinlichkeit stieg jedoch mit dem Alter an: von 0,8 auf 1,5 und 1,8 Ereignisse pro 100 Patientenjahre. Im Vergleich mit den 70-79-Jährigen war die Thromboembolie-Inzidenz von Patienten ≥ 90 Jahren mehr als doppelt so hoch (HR: 2,14; CI: 1,22-3,75). Auch hier zeigte sich in einer Subgruppenanalyse, dass Patienten, die neu auf VKA eingestellt waren, ein besonders hohes Thromboembolierisiko hatten (HR: 5,57; CI: 1,22-25,4). Das erhöhte Risiko für Thromboembolien blieb auch nach Adjustierung an die Qualität der INR-Einstellung bestehen.
Die Aussagen der Studie sind dadurch eingeschränkt, dass es sich um eine retrospektive Untersuchung handelt mit einem hohen Risiko für Störfaktoren. Außerdem ist ein relevanter Selektionsbias anzunehmen, denn es wurden nur Patienten in der Datenbank des CTS aufgeführt, die von ihren Ärzt(inn)en im Vorfeld für eine VKA ausgewählt werden. Hochbetagte Problempatienten tauchen also möglicherweise in der Datenbank gar nicht auf. Zudem ist das Management der Antikoagulation dieser Gerinnungsambulanz in Groningen der Institution sehr gut, denn 73,5% der 70-79-Jährigen befanden sich im therapeutischen Bereich. Daher sind die Ergebnisse nicht ohne weiteres zu verallgemeinern. Dennoch kann man sich den Schlussfolgerungen der Autoren durchaus anschließen: Auch hochbetagte Patienten (d.h. > 90 Jahre) können bei entsprechender Indikation mit VKA antikoaguliert werden.
Fazit: Eine große retrospektive Kohortenstudie mit hochbetagten Patienten unter Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) zeigt, dass die Häufigkeit von Blutungen unter VKA im hohen Lebensalter nur leicht ansteigt, nicht aber der Schweregrad. Ausschlaggebend hinsichtlich der Häufigkeit von Blutungen und Thromboembolien war in erster Linie die Güte der INR-Einstellung, nicht aber das Alter per se. Daher ist eine orale Antikoagulation auch im höheren Lebensalter bei entsprechender Indikation eine bedenkenswerte Option.
Literatur
- A.M., et al.: JAMA Int. Med. 2016, 176, 1176. Link zur Quelle