In der Swiss Medical Weekly erschien im Mai eine bemerkenswerte Analyse des hausärztlichen Managements bei kardiovaskulären Risikopatienten in der Schweiz (1). Darin wurde die Umsetzung der von der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) in ihren Leitlinien von 2016 vorgegebenen Therapieziele bezüglich des LDL-Cholesterins (LDL-C) im Jahre 2018 untersucht. Damals galten als Ziele (2): bei geringem/moderatem Risiko: LDL-C < 3,0 mmol/l (< 115 mg/dl), bei hohem Risiko: < 2,6 mmol/l (< 100 mg/dl) und bei sehr hohem Risiko: < 1,8 mmol/l (< 70 mg/dl). Die Analyse wurde am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Zürich erstellt und durch öffentliche Gelder finanziert.
Es wurden retrospektiv Daten aus dem FIRE-Register ausgewertet (3). Darin werden zu Forschungszwecken medizinische Routinedaten aus der Grundversorgung gesammelt (z.B. Beratungsanlässe, Diagnosen, Vital- und Laborwerte, Medikation). Über 540 Hausärzte und Hausärztinnen nahmen an diesem Projekt teil. Für die Analyse (1) wurden die Behandlungsdaten aus 100 Arztpraxen von 11.779 Personen betrachtet, denen im Jahr 2018 ein Statin verordnet worden war. Das mediane Alter betrug 71 Jahre (IQR: 62-78), 60,3% waren Männer. Als Vordiagnose hatten 74,4% arterielle Hypertonie, 32,4% Diabetes mellitus und 22,6% eine Niereninsuffizienz. Gemäß den Kriterien der ESC hatten 48,3% ein „sehr hohes“, 10,3% ein „hohes“ und 41,4% ein „niedriges oder moderates“ kardiovaskuläres Risiko. Eine manifeste atherosklerotische Erkrankung (Koronar-Stent, Herzinfarkt, Schlaganfall etc.) lag bei 22,2% vor, d.h. die Mehrzahl der Personen erhielt Statine zur Primärprävention.
Die Personen hatten im analysierten Jahr im Median 10 Hausarztkonsultationen (IQR: 5-17). Die Blutlipide wurden dabei nur bei 5.135 Personen gemessen (43,6%), obwohl die ESC-Leitlinie eine mindestens jährliche Kontrolle empfiehlt (2). Eine niedrige Statin-Dosis erhielten 4,4%, eine mittlere 50,6% und eine Hochdosistherapie 39%; bei einem kleinen Teil der Patienten war die Dosis nicht zu rekonstruieren. Eine Kombinationsbehandlung mit einem weiteren Lipidsenker (meist Ezetimib) erfolgte bei 8,9%.
Der LDL-C-Wert betrug im Median 2,3 mmol/l (89 mg/dl). Nur knapp die Hälfte (49,6%) erreichte den LDL-Zielwert der ESC in der jeweiligen Risikokategorie. Je höher das Risiko, desto weniger oft wurden die Ziele erreicht: In den Kategorien „niedriges und moderates Risiko“ erreichten 65,7% die Vorgabe, in der Kategorie „hohes Risiko“ 56,3% und in der Kategorie „sehr hohes Risiko“ 35,6% (Odds Ratio = OR sehr hohes vs. niedriges/moderates Risiko: 0,30; 95%-Konfidenzintervall: 0,24-0,37; p = 0,008). Eine multivariate Regressionsanalyse ergab zudem, dass die Zielvorgaben von Männern häufiger erreicht wurden als von Frauen (OR: > 2).
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die ESC-Leitlinien in der Schweiz unzureichend umgesetzt sind. Als mögliche Gründe nennen sie auf Seiten der Patienten Unverträglichkeiten der Statine und eine abnehmende Einnahmetreue (Adhärenz) mit steigender Dosis. Die geringe Zahl von Laborkontrollen weise aber auch auf Mängel bei der Umsetzung auf Seiten der Hausärzte hin. Viele bevorzugten offenbar eine Strategie der festen Dosis ohne häufige Kontrollen („fire and forget“). Dieses Vorgehen (Anwendung der höchsten tolerierten Statin-Dosis) wurde ja von anderen Fachgesellschaften, beispielsweise von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) oder vom American College of Cardiology/American Heart Association (ACC/AHA) 2013 empfohlen (Diskussion bei 4).
Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung ihrer ambitionierten Therapieziele sind der ESC schon lange bekannt. Im EUROASPIRE-V-Survey der ESC wurden die Behandlungsdaten von Patienten mit bekannter koronarer Herzkrankheit in 27 ihrer Mitgliedsländer erhoben (5). Dabei zeigte sich, dass 6 Monate nach einem Koronarereignis (Kategorie „sehr hohes Risiko“) gerade einmal 29% der Patienten den empfohlenen LDL-C-Zielwert erreichten (Spanne zwischen den Ländern 10-48%) und nur knapp 50% eine Hochdosis-Statin-Behandlung erhielten. Auch bei dieser Erhebung fand sich eine „Unterbehandlung“ von Frauen (Zielvorgaben nur von 22,1% erreicht, dagegen 31,4% bei Männern).
Die von der ESC vorgeschlagene Titrationsstrategie ist in der Praxis schwer umzusetzen. Sie ist aufwändig und erfordert zum Teil drei verschiedene Lipidsenker, für die es keine (Ezetimib) oder nur unzureichende Evidenz (PCSK-9-Hemmer) für einen klinisch bedeutsamen Nutzen gibt. Niemand möchte präventiv zugleich mit drei Lipidsenkern behandelt werden. Die Praxis zeigt, dass mit zunehmender Komplexität einer Therapie das Risiko für Therapieabbrüche steigt. Ein weiteres, sehr grundsätzliches und ungelöstes Problem ist, dass es für den Nutzen dieser Zielvorgaben allenfalls eine indirekte Evidenz gibt. Darüber hinaus ist auch verwirrend und kontraproduktiv, wenn parallel mehrere Leitlinien unterschiedliche Empfehlungen zu einer Problematik geben.
Die ESC sollte nicht weiter an schwer erreichbaren Therapiezielen festhalten, sondern ihre Mittel darauf verwenden, die im Alltag enorm wichtige Frage nach der besten Behandlungsstrategie („treat to target“ oder „fire and forget“) durch eine Studie explizit zu klären.
Fazit: Die Zielvorgaben der ESC-Leitlinie hinsichtlich der optimalen LDL-Werte in der Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen sind im Alltag ungenügend umzusetzen. Anstatt die bestehende Verwirrung um die optimalen LDL-Werte mit noch schärferen und unzureichend evaluierten Vorgaben weiter zu vergrößern, sollte sich die ESC für eine bessere Evidenz hinsichtlich des Nutzens und Schadens beim praktischen Vorgehen einsetzen (vgl. 6).
Literatur
- Rachamin, Y., et al.: Swiss Med. Wkly. 2020, 150, w20244. Link zur Quelle
- Catapano, A.L., et al.: Eur. Heart J. 2016, 37, 2999. Link zur Quelle
- Universität Zürich, Institut für Hausarztmedizin (FIRE = Family medicine ICPC Research using Electronic medical records. Link zur Quelle (Zugriff 19.6.2020).
- Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Chronische KHK, 5. Auflage, 2019. Link zur Quelle (Zugriff 19.6.2020).
- De Backer, G., et al. (ESC-EORP-EUROASPIRE V = EUROpean Action on Secondary Prevention by Intervention to Reduce Events V): Atherosclerosis 2019, 285, 135. Link zur Quelle
- AMB 2011, 45, 25 Link zur Quelle . AMB 2015, 49, 88DB01 Link zur Quelle . AMB 2017, 51, 19 Link zur Quelle . AMB 2017, 51, 36 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 73. Link zur Quelle