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Ticagrelor: kurz vor Patentablauf fragwürdige Indikationserweiterung für die Primärprävention der koronaren Herzkrankheit

Zusammenfassung: Die Food and Drug Administration (FDA) hat eine massive Ausweitung der Indikation von Ticagrelor genehmigt: In den USA ist Ticagrelor in Kombination mit ASS nun auch zur Dauertherapie bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) ohne vorangegangenes Akutereignis und auch ohne vorangegangene oder geplante Koronarintervention zugelassen. Das Anwendungsgebiet reicht weit in die KHK-Primärprävention hinein. Da viele Fragen offen sind – insbesondere der Gesamtnutzen in Anbetracht des Blutungsrisikos – sollte eine Daueranwendung aller P2Y12-Inhibitoren aus unserer Sicht weiterhin mit großer Zurückhaltung erfolgen.

Die PEGASUS-TIMI-54-Studie zeigte 2015 einen geringen Überlebensvorteil bei einer prolongierten Therapie mit Ticagrelor (> 12 Monate) zusätzlich zu Acetylsalicylsäure (ASS) nach akutem Koronarsyndrom. Ein Jahr darauf erfolgten entsprechende Indikationserweiterungen durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und die U.S. Food and Drug Administration (FDA) – trotz einiger offener Fragen. Hierzu zählen beispielsweise: Welche Infarktpatienten profitieren? Wie lange sollte Ticagrelor eingenommen werden? Wir haben wiederholt darüber berichtet (1). Auch die europäischen Leitlinien zu den „Chronischen Koronarsyndromen“ äußern sich dazu zurückhaltend (2). Die Entscheidung zur prolongierten Therapie solle individuell durch ein kardiologisches Zentrum unter Berücksichtigung des individuellen (Stent-) Thrombose- und Blutungsrisikos getroffen werden.

Im Oktober 2019 wurde nun im N. Engl. J. Med. die Nachfolgestudie THEMIS publiziert (3). In ihr wurde bei kardiovaskulären Hochrisiko-Patienten ohne vorangegangenen Myokardinfarkt oder Schlaganfall der Nutzen einer antithrombotischen Behandlung mit ASS plus Ticagrelor versus ASS plus Plazebo verglichen. Einschlusskriterien in THEMIS waren Alter > 50 Jahre, stabile koronare Herzkrankheit (KHK; Definition: angiographisch nachgewiesene Koronarstenose > 50% oder Zustand nach Koronarintervention bzw. Bypassintervention) und Diabetes mellitus Typ 2 (DM2). Patienten mit Myokardinfarkt oder Schlaganfall in der Vorgeschichte waren explizit ausgeschlossen. Der primäre kombinierte Effektivitätsendpunkt umfasste: kardiovaskulärer Tod, Myokardinfarkt oder Schlaganfall; primärer Sicherheitsendpunkt war die Rate schwerer Blutungen.

THEMIS schloss 19.220 Patienten ein, die 1:1 für ASS plus Ticagrelor (zunächst zweimal 90 mg/d, später zweimal 60 mg/d; s.u.) versus ASS plus Plazebo randomisiert und im Mittel über 39,9 Monate nachbeobachtet wurden. Von den Patienten hatten 58% eine elektive perkutane Koronarintervention (PCI) und 21,8% eine aortokoronare Bypassoperation (ACBP) in der Vorgeschichte. Neben diesen Patienten, die sekundärpräventiv behandelt wurden, hatte die untersuchte Population somit einem Anteil von 20,2% Patienten, die offensichtlich im Rahmen der primären Prävention die antithrombotische Therapie erhielten.

Ergebnisse: Der kombinierte Effektivitätsendpunkt trat in der Ticagrelor-Gruppe statistisch signifikant seltener ein als in der Plazebo-Gruppe (absolute Risikoreduktion 0,8%; Number needed to treat = NNT: 125); jedoch kam es unter Ticagrelor signifikant häufiger zu schweren Blutungen (Risikozunahme absolut: 1,2%; Number needed to harm = NNH: 83). Ein von den Autoren definierter kombinierter „Netto-Endpunkt aller irreversiblen Schäden“ ergab daher keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen (s. Tab. 1). Auffällig sind sehr hohe Absetzraten in beiden Gruppen (Ticagrelor 34,5% vs. ASS 25,4%). Die hohe Ticagrelor-Intoleranz beruhte auf Dyspnoe und Blutungen (s. Tab. 1). Deshalb wurde nach etwa einem Viertel der Studienzeit die Dosis von initial zweimal 90 mg/d auf zweimal 60 mg/d reduziert. Die Daten der THEMIS-Subpopulation mit Zustand nach elektiver PCI (11.154 Patienten = 58%) wurden in einer separaten Arbeit (THEMIS-PCI) publiziert (4); sie zeigten geringfügig günstigere Ergebnisse für die Ticagrelor-Gruppe (s. Tab. 1).

Aufgrund dieser Ergebnisse würde man Ticagrelor in dieser Indikation keinen besonderen Stellenwert zumessen. Nun hat die FDA jedoch auf Basis der THEMIS-Studie überraschend eine Zulassung für „KHK-Patienten ohne vorangegangenen Schlaganfall oder Myokardinfarkt mit hohem Risiko“ erteilt (5). Mehrere wichtige Fragen bleiben aber offen: Wie sind in diesem Zusammenhang „Hochrisiko“ und „KHK“ zu definieren? Warum ist die Zulassung nicht explizit auf Patienten mit DM2 beschränkt – entsprechend den Einschlusskriterien von THEMIS? Wird zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden?

Unseres Erachtens sollte eine duale Thrombozytenhemmung (DAPT) grundsätzlich auf folgende Indikationen beschränkt bleiben:

  1. Elektive PCI periinterventionell und anschließend weiter für 3 bis 6 Monate (nur Clopidogrel zugelassen),
  2. Akute PCI periinterventionell und anschließend weiter für 12 Monate (Clopidogrel, Ticagrelor und Prasugrel zugelassen).

Sowohl nach elektiver als auch nach akuter PCI kann (und muss) in Abhängigkeit vom individuellen Stent-Thrombose- bzw. Blutungsrisiko in Ausnahmefällen über eine kürzere oder längere Dauer der DAPT entschieden werden. Außerhalb dieser Indikationen kann jedoch aufgrund der aktuellen Datenlage eine DAPT nicht empfohlen werden (unabhängig von Art und Dosis des verwendeten P2Y12-Inhibitors). Dies gilt ganz besonders für Patienten ohne vorangegangenes klinisches Ereignis mit oder ohne bildgebend nachgewiesenen Koronarstenosen, also in der Primärprävention.

Da der Ablauf des Patentschutzes für Ticagrelor in den USA bereits stattgefunden hat und in der EU kurz bevorsteht, ist davon auszugehen, dass der Hersteller mit dieser ausgedehnten Indikationserweiterung das Originalpräparat repositionieren und von künftigen Generika-Mitbewerbern abgrenzen möchte und dies auch für den europäischen Markt versuchen wird.

Am Rande sei in diesem Zusammenhang auch nochmals auf die ISAR-REACT-5-Studie hingewiesen, die in einem (vorbehaltlichen) Vergleich von Ticagrelor versus Prasugrel nach ACS deutlich bessere Endpunktdaten für Prasugrel gezeigt hatte (6). Bevor man die Anwendung irgendeines P2Y12-Inhibitors auf eine Dauertherapie nach akuter oder elektiver PCI oder gar in die Primärprävention ausdehnt, sind dazu Vergleichsstudien aller verfügbaren Wirkstoffe (Clopidogrel, Prasugrel, Ticagrelor) zu fordern.

Literatur

  1. AMB 2015, 49, 84 Link zur Quelle . AMB 2016, 50, 58. Link zur Quelle
  2. AMB 2019, 53, 89. Link zur Quelle
  3. Steg, P.G., et al. (THEMIS = Ticagrelor on Health outcomes in diabEtes Mellitus patients Intervention Study): N. Engl. J. Med. 2019, 381, 1309. Link zur Quelle
  4. Bhatt, D.L., et al. (THEMIS-PCI = Ticagrelor on Health outcomes in diabEtes Mellitus patients Intervention Study-Percutaneous Coronary Intervention): Lancet 2019, 394, 1169. Link zur Quelle
  5. https://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/ label/2020/022433s028lbl.pdf Link zur Quelle
  6. AMB 2019, 53, 92. Link zur Quelle

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