Artikel herunterladen

Erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern bei alten Menschen, die mit (zu) hohen Dosen Levothyroxin substituiert werden

Levothyroxin (T4) ist ein in „entwickelten“ Ländern sehr häufig verordnetes Medikament – oft ohne zwingende Indikation und in zu hoher Dosierung (vgl. 1). Wir haben 2017 (2) über eine randomisierte kontrollierte Studie berichtet, die ergab, dass eine T4-Substitution bei älteren Menschen mit subklinischer Hypothyreose (SH = nur erhöhtes TSH bei normaler T4-Konzentration im Blut) keinen Vorteil bringt. Hingegen ist bekannt, dass bei klinischer Hyperthyreose oder bei zu hoch dosierter T4-Therapie wegen Hypothyreose das Risiko für Herzrhythmusstörungen, speziell Vorhofflimmern (Vofli), zunimmt (3, 4).

I.Y. Gong et al. aus Toronto untersuchten kürzlich in einer Beobachtungsstudie, basierend auf Bevölkerungsdaten der kanadischen Provinz Ontario (Datenerfassung ähnlich der des britischen National Health Service), bei Personen im Alter > 50 Jahre die Beziehung zwischen der Dosierung von T4 und der Inzidenz von Vofli, das in Notaufnahme-Einrichtungen oder während einer Krankenhausbehandlung erfasst wurde (5). In der landesweiten Datei wurden 183.360 Personen ohne bekanntes Vofli identifiziert, die zwischen April 2016 und März 2017 wenigstens einmal eine Verordnung von T4 erhalten hatten. Bis Ende Dezember 2017 wurde die individuell kumulativ verordnete Gesamtmenge T4 (in Milligramm) und die individuell durchschnittliche Tagesdosis T4 (in Mikrogramm) ermittelt und zur kumulativen Inzidenz von Vofli in Beziehung gesetzt. Ausgeschlossen von der Studie waren Personen mit bekannter früherer Diagnose Hyperthyreose, Schilddrüsenkrebs, Mitralklappenerkrankungen und Herzrhythmusstörungen. Es wurde davon ausgegangen, dass somit bei der großen Mehrheit der Patienten eine Hypothyreose (subklinisch oder klinisch manifest) Anlass für die T4-Verordnungen war. Über die genaue Indikation für die Behandlung mit T4 und über T4- und TSH-Messungen im Blut lagen in der Datei keine Aufzeichnungen vor. Weiterhin sollte ermittelt werden, ob die Höhe der T4-Dosierung mit der prospektiven Inzidenz ischämischer Schlaganfälle assoziiert ist.

Methodik und Ergebnisse: Das Durchschnittsalter der mit T4 behandelten Personen betrug 82 Jahre, 72% waren Frauen. Bei 30.560 Personen (16,1% der Kohorte) trat irgendwann in den erfassten 20 Monaten Vofli auf, das in Notaufnahme-Einrichtungen oder im Krankenhaus diagnostiziert wurde. Jeder Person mit Vofli wurden aus der Datenbank 5 gleich alte und gleichgeschlechtliche Personen ohne Vofli zugeordnet, die hinsichtlich der Häufigkeit bekannter Vorerkrankungen miteinander verglichen wurden. Nicht überraschend hatten die Patienten mit Vofli häufiger als das Kontrollkollektiv Risikofaktoren für Vofli, z.B. arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz und eine kardiovaskuläre Medikation.

T4-Dosis und Vofli: Unter Anwendung des „nested case control approach“ wurden Kohorten, die im Durchschnitt < 75 µg T4/d (Niedrigdosis) eingenommen hatten, mit solchen, die mittelhohe Dosen (75-125 µg/d) bzw. hohe Dosen (> 125 µg/d) eingenommen hatten, hinsichtlich der Inzidenz von Vofli verglichen. Die Niedrigdosisgruppe war die Bezugsgröße. In der T4-Hochdosis-Gruppe war die Inzidenz von Vofli mit einer Odds Ratio (OR) von 1,29 (Konfidenzintervall = CI: 1,23-1,35) signifikant erhöht; weniger, aber wegen der großen Personenzahl ebenfalls signifikant, war dies in der mittleren Dosisgruppe der Fall (OR: 1,08; CI: 1,04-1,11). In einem polynomialen Diagramm wird dargestellt, dass die Inzidenz von Vofli mit der im Beobachtungszeitraum eingenommenen T4-Gesamtmenge zwischen etwa 50 mg und 110 mg linear ansteigt. Ein steilerer Anstieg fand sich in höheren Dosisbereichen.

T4-Dosis und Schlaganfall: In dem jeweiligen Jahr vor Erst-Registrierung von Vofli („index date“) war das Risiko für ischämischen Insult in der T4-Hochdosis-Gruppe signifikant erhöht (OR: 1,12; CI: 1,05-1,20; p < 0,0004). Nach Vergleich mit der großen Kontrollgruppe hinsichtlich Kovarianten (Begleiterkrankungen) war das Risiko für Schlaganfall nicht mehr signifikant erhöht.

Die Schlussfolgerung der Autoren lautet: Bei älteren Personen, die mit T4-Tagesdosen > 75 µg behandelt werden, ist die Höhe der T4-Dosis mit einer zunehmend höheren Inzidenz von Vofli signifikant assoziiert, nicht aber mit einem signifikant erhöhten Risiko für ischämische Schlaganfälle.

Die Studie stützt sich ausschließlich auf Daten, die unabhängig von den Fragestellungen dieser Untersuchung in der nationalen Datenbank enthalten waren. Die aus unserer Sicht relativ geringe Zunahme von Vofli bei Personen dieser Altersgruppe mit hohen Thyroxindosen (> 125 µg/d) kann darauf zurückzuführen sein, dass ambulant bei Hausärzten oder niedergelassenen Kardiologen registriertes und behandeltes Vofli nicht erfasst wurde. Es verwundert, dass bei Untersuchung aller Personen > 65 Jahre das mittlere Alter der mit T4 behandelten Personen 82 Jahre war. In der Diskussion erwähnen die Autoren, dass die durchschnittliche Tagesdosis von T4 bei > 50% dieser betagten Population ≥ 75 µg/d war. In Deutschland beginnt man bei alten Menschen mit „latenter“ Hypothyreose, wenn überhaupt indiziert, mit Tagesdosen von 50 µg.

Das Ergebnis der hier besprochen Untersuchung ist nicht neu. Selbst bei Schilddrüsen-Gesunden > 45 Jahren (6) oder > 65 Jahren (7) ist Vofli bei solchen mit hochnormalen Konzentrationen von freiem Thyroxin (fT4) im Blut signifikant häufiger als bei solchen mit niedrig-normalem fT4. Wir verweisen auf ein Diagramm in unserem Hauptartikel von Oktober 2016, in dem Behandlungsrichtlinien für ältere Patienten mit SH mitgeteilt werden (3). Bei Patienten mit SH (noch normales fT4, meist auch normales freies Trijodthyronin) und TSH-Werten von maximal 10 mU/l empfiehlt sich zunächst eine Wiederholung der Messungen. Bei Personen mit TSH-Werten < 10 mU/l ohne Hypothyreose-verdächtige Symptome sind in der Regel weitere Beobachtung und erneute Hormonkontrollen nach 3 Monaten indiziert. Wird eine T4-Substitution begonnen, sollte bei älteren Patienten eine Senkung des nach einigen Wochen gemessenen TSH-Werts nicht unter ca. 2 mU/l angestrebt werden. Hierfür genügt meist eine T4-Dosis von 50-75 µg/d. Bei jungen Patienten mit SH (meist aufgrund einer Autoimmunthyreoiditis) soll der TSH-Wert in den mittleren Normbereich gesenkt werden. Die erwähnten höheren T4-Dosierungen sind auch dabei fast nie erforderlich.

Fazit: In einer Studie, basierend auf Daten des kanadischen Health Insurance Plan (Bundesstaat Ontario), wurde bei ca. 183.000 Personen > 65 Jahre, denen Levothyroxin (T4) verordnet wurde, die Inzidenz von Vorhofflimmern ermittelt und zur mittleren kumulativen T4-Dosis in Beziehung gesetzt. Die meisten Personen erhielten T4 vermutlich wegen subklinischer oder klinischer Hypothyreose. Die Inzidenz von Vorhofflimmern nahm bei einer durchschnittlichen T4-Tagesdosis von > 75 µg signifikant zu und deutlich stärker bei > 125 µg. Die leichte Zunahme von ischämischen Schlaganfällen bei höherer T4-Dosierung und Vorhofflimmern (durch mögliche Thromben im linken Vorhof) war nicht signifikant. Zur Dosierung von T4 bei älteren Menschen mit subklinischer Hypothyreose verweisen wir auf Behandlungsempfehlungen aus einer früheren Veröffentlichung im AMB (3).

Literatur

  1. AMB 2021, 55, 70. Link zur Quelle
  2. AMB 2017, 51, 55. Link zur Quelle
  3. AMB 2016, 50, 73. Link zur Quelle
  4. Grais, I.M., und Sowers, J.R.: Am. J. Med. 2014, 127, 691. Link zur Quelle
  5. Gong, I.Y., et al.: Am. Heart J. 2021, 232, 47. Link zur Quelle
  6. Chaker, L., et al. (Rotterdam study): J. Clin. Endocrinol. Metab. 2015, 100, 3718. Link zur Quelle
  7. Gammage, M.D., et al.: Arch. Intern. Med. 2007, 167, 928. Link zur Quelle