Frage von Dr. D.T. aus M.: >> In vielen „Stroke-Units“ wird bereits im Frühstadium eines ischämischen Hirninfarkts Atorvastatin verordnet wegen eines für mich wenig belegten „neuroprotektiven“ Effekts, v.a. zur „Plaquestabilisierung“. Wie ist die Studienlage? Problematisch ist dieses Vorgehen ja auch, weil Atorvastatin, z.B. mit Phenprocoumon oft par-
allel bei derselben Erkrankung gegeben, dessen Wirkung massiv verstärkt, bis hin zur Nichteinstellbarkeit. <<
Antwort: >> Ihre Frage berührt zwei Themen: 1. den Nutzen einer frühen Behandlung mit einem Statin nach Schlaganfall bzw. transitorischer ischämischer Attacke (SA/TIA) und 2. das Interaktionspotenzial von Atorvastatin.
Ad 1: In der S2e Leitlinie (LL) zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls (SA) finden sich keine Empfehlungen für eine frühe Behandlung mit einem Statin (Stand 10. Mai 2021, gültig bis 2024; [1]). Das Wort „Statin“ taucht in dieser LL nur einmal auf. Es wird die FASTER-Studie aus dem Jahr 2007 zitiert [2], in der 392 Patienten mit „leichtem“ SA bzw. TIA innerhalb von 24 Stunden nach Symptombeginn Clopidogrel oder Plazebo und Simvastatin oder Plazebo erhielten. In dieser randomisierten kontrollierten Studie (RCT) konnte kein Nutzen der frühen Behandlung mit Simvastatin nachgewiesen werden: Rezidivhäufigkeit innerhalb von 90 Tagen mit Simvastatin 10,6% vs. 7,3% mit Plazebo; Relatives Risiko: 1,3; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,7-2,4).
Die abgelaufene S3-LL verschiedener deutschsprachiger Fachgesellschaften zur Sekundärprophylaxe ischämischer SA/TIA aus dem Jahr 2015 [3] stellt u.a. die Forschungsfrage, ob Statine bei Patienten nach ischämischem SA oder TIA auch unter Berücksichtigung des SA-Subtyps und der Komorbidität verglichen mit Plazebo das Auftreten des kombinierten Endpunkts Myokardinfarkt, SA und vaskulärer Tod reduzieren. Die Autoren kamen zu einem sehr eindeutigen Ergebnis: Ja (Empfehlungsgrad A, Evidenzebene Ia). Als Belege werden einige RCT und Metaanalysen zitiert, die jedoch allesamt in der Postakutphase durchgeführt wurden, also Wochen oder Monate nach dem neurologischen Ereignis.
Die vielleicht wichtigste Studie ist SPARCL aus dem Jahr 2006 [4]. In dieses RCT wurden 4.731 ambulante Patienten nach SA/TIA eingeschlossen. Sie mussten ein LDL-Chole-
sterin (LDL-C) von 100-190 mg/dl haben (im Mittel 133 mg/dl) und erhielten ab einem Monat bis maximal ab 6 Monaten nach SA/TIA (im Mittel nach 86 Tagen) dauerhaft hochdosiert Atorvastatin (80 mg/d) oder Plazebo. Nach einer medianen Zeit von 4,9 Jahren hatte die Intervention tödliche oder nicht tödliche SA (11,2% vs. 13,1%) und koronare Ereignisse (5,2% vs. 8,6%) signifikant reduziert. Die Gesamtmortalität blieb jedoch unbeeinflusst (9,1% vs. 8,9%).
Eine systematische Literaturübersicht identifizierte bis Juli 2017 insgesamt 9 RCT, in denen Statine bei > 10.000 Patienten nach SA/TIA untersucht wurden [5]. Demnach reduzieren Statine über eine mediane Zeit von 2,5 Jahren das absolute Risiko von SA/TIA im Vergleich zu keinem Statin um 4,2% (CI: - 6,2 bis -2,1%) und für kardiovaskuläre Ereignisse um 5,4% (CI: -6,8 bis -3,6%). Die Gesamtmortalität blieb auch in dieser Analyse unbeeinflusst (absolute Risikoreduktion +0,3%). Basierend auf diesen Daten empfiehlt die druckfrische LL der US-amerikanischen Fachgesellschaften AHA/ASA zur Sekundärprävention nach SA/TIA bei Personen mit LDL-C-Werten > 100 mg/dl explizit 80 mg Atorvastatin (1/A; [6]). Zum Zeitpunkt des Beginns der Therapie werden keine Angaben gemacht.
Für die Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Schlaganfall Register (ADSR) zählen „Fälle, die zum Entlassungszeitpunkt ein Statin erhielten oder denen ein Statin verordnet oder empfohlen wurde“, als ein Qualitätsfaktor von insgesamt 27 [7]. Dies könnte erklären, warum Statine schon so früh nach SA/TIA gegeben werden. Evidenz für den Nutzen einer solch frühen Behandlung konnten wir nicht finden.
Ad 2: Atorvastatin hat ein moderates pharmakokinetisches Interaktionspotenzial. Die Plasmaeiweißbindung beträgt 80-90%; es wird transmembranös über den Organo-Anion-Transporter OATP1B1/1B3 sowie über das Breast Cancer Resistance Protein (BCRP) transportiert und über CYP3A4 metabolisiert. Hieraus ergeben sich mehrere Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Arzneimitteln (vgl. Übersicht bei [8]). Die Gefahr toxischer Atorvastatin-Konzentrationen und für eine Rhabdomyolyse besteht besonders bei gleichzeitiger Einnahme von starken Inhibitoren von CYP3A4, wie z.B. Ciclosporin, Clarithromycin, Ketoconazol und mehrere HIV-Protease-Inhibitoren, Fusidinsäure u.a., oder den genannten Transportproteinen.
Medikamente, deren Plasmakonzentrationen durch Atorvastatin verändert werden können, sind laut Fachinformationen [9]: Digoxin (Plasmaspiegel steigen geringfügig an), bestimmte orale Kontrazeptiva (Norethisteron und Ethinylestradiol; Plasmakonzentrationen steigen) und Vitamin-K-Antagonisten (VKA), genannt wird aber nur Warfarin. Mit 80 mg/d Atorvastatin kommt es demnach bei mit VKA behandelten Patienten zu einer geringen Abnahme der Prothrombinzeit während der ersten 4 Behandlungstage. Nach 2 Wochen sei diese aber wieder normal. Dies deckt sich mit den Beobachtungen aus einer dänischen Fall-Kontroll-Studie [10]. Demnach führt neu verordnetes Simvastatin in der untersuchten Kohorte unter laufender Warfarin-Therapie zu einem Anstieg der mittleren INR um 0,32 Punkte (von 2,40 auf 2,71), Atorvastatin um 0,27 und Rosuvastatin um 0,30. Auch in der Fachinformation zu dem hierzulande gebräuchlicheren Phenprocoumon wird auf eine Wirkungsverstärkung durch Statine hingewiesen [11]. Zu Beginn einer Statin-Behandlung kann es also erforderlich sein, die VKA-Dosis zu reduzieren, insbesondere bei Hochdosis-Statin-Therapie. Grundsätzlich sehen wir aber in der gemeinsamen Verordnung von Atorvastatin und VKA kein großes klinisches Problem, wenn regelmäßig INR-Kontrollen erfolgen und die Dosis des Gerinnungshemmers entsprechend angepasst wird. Die möglichen initialen INR-Anstiege sollten aber bekannt sein. <<