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Leserbrief: Blutlipide und Verminderung des Arteriosklerose­risikos [CME]

Dr. G. aus K. schreibt: >> Dankenswerterweise beschäftigen Sie sich im ARZNEIMITTELBRIEF vom Mai 2022 [1] noch einmal mit der Wertigkeit der Therapie der Hypercholesterinämie mit Ezetimib und/oder der Proproteinkonvertase (PCSK9)-Inhibitoren als Zusatz- oder als alleinige Therapie bei Statin-Intoleranz. Erlauben Sie mir hierzu einige Bemerkungen: Dass Ezetimib und PCSK9-Inhibitoren bei mit Statinen vorbehandelten Patienten einen nur geringen Effekt auf die Morbidität und keinen auf die Mortalität haben, ist hinlänglich bekannt und mag erklärt sein dadurch, dass die LDL-C-Ausgangswerte in den Studien oft schon niedrig waren und somit ein nur geringer Zusatznutzen zu erwarten war (abnehmender Grenznutzen).

Dass diese Medikamente aber auch bei wegen Unverträglichkeit nicht mit Statinen behandelten Patienten, die somit deutlich höhere LDL-C-Werte gehabt haben müssen, keinen Effekt auf die Mortalität (nach 5 Jahren Behandlung) und nur einen wenig höheren Effekt auf die Morbidität erzielten als bei Patienten, die schon ein Statin erhalten hatten, empfinde ich als Sensation.

Und auch die PCSK9-Inhibitoren, die einen deutlich stärkeren Effekt auf das LDL-C haben als Ezetimib, sind nicht wesentlich effektiver. Sollte die LDL-C-Hypothese, nach der die Rate kardiovaskulärer Ereignisse mit der Höhe des LDL-C linear korreliert, doch nicht stimmen, und sollten die Nicht-LDL-C-Effekte der Statine doch wichtiger sein als angenommen?

Während die Therapiekosten für Ezetimib mittlerweile in einem niedrigen Bereich liegen, sind die für PCSK9-Inhibitoren mit ca. 10.000 € pro Jahr nach wie vor sehr hoch. Bei einer NNT von 50-100, wie von Ihnen angegeben, muss für jedes „verhinderte“ Ereignis ein Betrag von 500.000-1.000.000 € aufgewendet werden. Da ja die Ereignisse (z.B. Myokardinfarkt oder Stent-Implantation) nicht verhindert, sondern nur aufgeschoben werden, ist das Ergebnis noch ernüchternder.

Vor diesem Hintergrund überraschend sind dann die auf dem Review basierenden Empfehlungen. „Wenn eine weitere Risikosenkung gewünscht wird“, so wird von den Autoren freigestellt, kann der PCSK9-Inhibitor eingesetzt werden. Wer wünscht da eine weitere Risikoreduktion? Der behandelnde Arzt oder der Patient? Es geht hier um den Einsatz von ca. 1,5 Mio. €, um ein kardiovaskuläres Ereignis 1,5 Jahre bei jedem 50-100. Behandelten hinauszuzögern.

Die Entscheidung im Alltag und im Patientengespräch wird durch die Begriffe „hohes Risiko“, „sehr hohes Risiko“ bestimmt: Wir müssen etwas tun, wir können den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen. Die Größe des Effekts ist dabei nicht präsent.

Wir sind, wie Kahnemann in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ sagt, intuitiv schlechte Statistiker. Haben sich die Public-Health-Experten und Methodiker in dem multidisziplinären Team kein Gehör verschaffen können? Die so eingesetzten PCSK9-Inhibitoren werden hohe Kosten ohne relevanten Nutzen verursachen. <<

 

Antwort: >> Die Diskussion zeigt einmal mehr, dass dringend mehr Evidenz benötigt wird zur Wirksamkeit von PCSK9-Hemmern und auch zu den neueren Lipidsenkern hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte und Kosteneffektivität. Es ist skandalös, dass diese Daten auch 7 Jahre nach der Erstzulassung von PCSK9-Hemmern nicht vorgelegt werden können.

Ergänzend möchten wir noch auf zwei Aspekte hinweisen. Der „LDL-C-Zentrismus“, sowohl hinsichtlich der Pathophysiologie der Atherosklerose als auch der Therapieausrichtung, wird zunehmend kritisch gesehen. Die Konzentration der Apolipoprotein B (ApoB)-Partikel im Serum ist bei beiden Aspekten der genauere Marker [2]. ApoB ist das dominierende Apolipoprotein aller atherogenen Lipoproteine (Chylomikronen, VLDL, Lp(a), IDL und LDL-C). Das Herzinfarktrisiko kann auch bei „normalem“ LDL-C noch deutlich erhöht sein, beispielsweise bei hohen Lp(a)-Spiegeln und vice versa. ApoB scheint auch bei der Therapiesteuerung besser prädiktiv zu sein als LDL-C oder Non-HDL-C. Zudem kann es direkt gemessen werden und ist weniger anfällig für Messfehler. Daher fordern Lipidforscher wie beispielsweise Allen Snidermann von der McGill University in Montreal, dass in der Routineversorgung zukünftig nur noch das ApoB bestimmt werden sollte [3].

Auf einer Online-Plattform berichtete jüngst der Medizinjournalist Liam Davenport über eine Analyse von genetischen Risikoscores und Lp(a)- und LDL-C-Spiegeln bei knapp 500.000 Personen aus einer britischen Biodatenbank [4]. Die Untersuchung der Universität Cambridge wurde auf dem diesjährigen Kongress der „European Atherosclerosis Society“ (EAS) vorgestellt und ist noch nicht publiziert. Die Daten sollen u.a. zeigen, dass je höher das Lp(a) ist, desto stärker muss – in Abwesenheit einer spezifischen Lp(a)-senkenden Therapie – das LDL-C gesenkt werden, um das erhöhte Herzinfarktrisiko auszugleichen. Außerdem besteht eine Altersabhängigkeit: Je älter die Betroffenen mit hohem Lp(a) sind, desto stärker müsse das LDL-C gesenkt werden, um das Herzinfarktrisiko zu senken. So wurde für Personen mit einem Lp(a)-Spiegel von 220 nmol/l berechnet, dass zum Ausgleich des Risikos für schwere koronare Ereignisse das LDL-C bei Therapiebeginn mit 30 Jahren um 0,8 mmol/l gesenkt werden muss, bei Therapiebeginn mit 40 Jahren um 0,9 mmol/l, mit 50 Jahren um 1,2 mmol/l und mit 60 Jahren um 1,5 mmol/l.

Dieses Beispiel zeigt, dass sehr viel individuellere Ziele definiert werden müssen, auf Basis von vielen – teilweise auch noch besser zu definierenden – belastenden und auch entlastenden klinischen, laborchemischen und genetischen Faktoren („Risk-Enhancer“ bzw. „Risk-Reducer“; vgl. [5]). Die schematischen LDL-C-Vorgaben in den gegenwärtigen Leitlinien sind ein Anachronismus und das Gegenteil einer Präzisionsmedizin. Vor diesem Hintergrund hat die Empfehlung aus der „Clinical Practice Guideline“ zur Anwendung von Ezetimib und PCSK9-Hemmern [6] für eine Therapieintensivierung „wenn eine weitere Risikosenkung gewünscht wird“ aus unserer Sicht durchaus ihre Berechtigung. <<

Literatur

  1. AMB 2022, 56, 33. (Link zur Quelle)
  2. Johannesen, C.D.L., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2021, 77, 1439. (Link zur Quelle)
  3. Sniderman, A.D., et al.: JAMA Cardiol. 2022, 7, 257. (Link zur Quelle)
  4. https://www.medscape.com/viewarticle/974798?src=WNL_mdpls_220531_mscpedit_card&uac=182227DG&spon=2&impID=4291615#vp_2 (Link zur Quelle)
  5. AMB 2019, 53, 57. (Link zur Quelle)
  6. Hao, Q., et al.: BMJ 2022, 377, e069066. (Link zur Quelle)