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Der 53. Jahrgang des ARZNEIMITTELBRIEFs

Der Jahreswechsel ist traditionell ein Zeitpunkt, auf die vergangenen Monate zurück und auf das kommende Jahr voraus zu schauen.

Im Jahr 2019 sind im ARZNEIMITTELBRIEF insgesamt 92 Artikel erschienen. Drei Hauptartikel (1) und drei kleine Mitteilungen bzw. Leserbriefe (2) beschäftigten sich mit medizinischen Leitlinien. Leitlinien analysieren die vorhandene Evidenz und geben auf dieser Basis Handlungsempfehlungen. Sie sind ein wichtiges Instrument, um wissenschaftlich fundierte medizinische Ergebnisse in die Praxis umzusetzen. Deshalb sollten sie frei sein von kommerziellen Interessen. Dass dies häufig nicht der Fall ist, zeigen Analysen von Leitlinienwatch (3). Diese von Mezis, NeurologyFirst und Transparency International Deutschland begründete Initiative bewertet medizinische Leitlinien nach ihrer Unabhängigkeit von pharmazeutischen Unternehmern. Bislang wurden 181 Leitlinien nach vordefinierten Kriterien bewertet. Die Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zum Management von Dyslipidämien erhielt gerade einmal 3 von 18 Punkten und wurde, wie 76 andere Leitlinien auch (43% aller), als „reformbedürftig“ bewertet.

Auch wir haben diese Leitlinie stark kritisiert, nicht nur wegen der offensichtlichen formalen Mängel. Auch weil sie die Grenze zwischen Primär- und Sekundärprävention aufhebt, den Kreis der Behandlungsbedürftigen stark ausweitet, die LDL-Zielwerte in allen Risikogruppen weiter herabsetzt und eine Klasse-1-Empfehlung für Ezetimib und PCSK9-Hemmer abgibt, ohne dass jeweils stichhaltige Belege zur Wirksamkeit vorgelegt werden.

Alle diese bedeutsamen inhaltlichen Veränderungen wurden offensichtlich in einem Konsensverfahren vorgenommen. Genaueres ist nicht bekannt, denn ein Report über die Erstellung der Leitlinie ist bis heute nicht auffindbar (4). Somit bleibt der gesamte Prozess intransparent, und das Ergebnis sollte folglich nicht als Leitlinie, sondern als interessengeleitetes Positionspapier einer industrienahen Fachgesellschaft angesehen werden.

Wieder einmal scheint sich John Ioannidis düstere Analyse aus dem Jahre 2016 zu bewahrheiten: „Evidence-based medicine has been hijacked“ (5). Eine wichtige Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, diese Beeinflussung durch pharmazeutische Unternehmer einzudämmen.

Im Mai haben wir uns mit dem Screening auf Vorhofflimmern mittels Smartwatch beschäftigt (6). Diese „Health-Gadgets“ halten, wie auch die unzähligen Gesundheits-Apps, weiter nahezu kritiklos Einzug in unseren Alltag. Besteht nach einem ursächlich unklaren klinischen Ereignis der Verdacht auf eine Herzrhythmusstörung als Auslöser, ist eine Überwachung des Herzrhythmus mittels Smartwatch durchaus ein Fortschritt, denn die Geräte arbeiten mittlerweile technisch sehr zuverlässig. Allerdings halten wir das von den Anbietern angestrebte Massenscreening asymptomatischer, gesunder Menschen auf Arrhythmien für eine gefährliche Überdiagnostik. Dies wird in erster Linie zu mehr Unsicherheiten und dem Konsum von immer mehr „Gesundheitsdienstleistungen“ führen. Für solche Instrumente sollten daher die gleichen Regeln gelten, wie für alle anderen Tests in der Medizin auch. Die Hersteller müssen nachweisen, dass ihre Instrumente hinsichtlich der angebotenen Funktionen ausreichend sensitiv und spezifisch sind und zu akzeptablen positiv und negativ prädiktiven Werten führen. Zudem müssen sie die Sicherheit der überlassenen Daten gewährleisten und selbstverständlich auch transparent hinsichtlich ihrer Geschäftspartner und möglicher Interessenkonflikte sein (vgl. 7). Der Blick auf die Handgelenke unserer Mitmenschen zeigt jedoch, dass diese Forderungen bereits überholt sind. Die Faszination der Technik und das Marketing der Branche haben längst Fakten geschaffen und das Denken verändert. Viele Politiker halten „E-Health“ und „Big Data“ gar für ein Allzweckwerkzeug, um die vielen strukturellen Probleme in unseren Gesundheitssystemen zu reparieren.

Derzeit werden so viele neue Arzneimittel zugelassen wie noch nie zuvor, und die Preise patentgeschützter Medikamente vervielfachen sich seit Jahren. Im April und Mai 2019 haben wir ausführlich über eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu den großen Herausforderungen unserer Gesundheitssysteme berichtet, auf welche Weise Patienten besser mit tatsächlich innovativen Arzneimitteln zu angemessenen Preisen versorgt werden können (8). DER ARZNEIMITTELBRIEF unterstützt die darin aufgestellten Forderungen. Demnach müssen die weiter zunehmenden beschleunigten Zulassungen prinzipiell mit strikten Vorgaben verknüpft werden, nach der Zulassung rasch weitere Evidenz zu generieren. Außerdem sollte es verstärkt internationale Kooperationen beim Health Technology Assessment (HTA), der Qualitätskontrolle in der Arzneimittelproduktion, den Preisverhandlungen bzw. der Herstellung und Beschaffung von Arzneimitteln geben.

Der leichte Zugang zu Informationen – jederzeit und an jedem Ort – führt nicht, wie erhofft, zu mehr Klarheit, sondern vielfach zu mehr Verwirrung und Unsicherheit. Fehl- und Desinformation finden sich in der medizinischen Praxis und dem wissenschaftlichen Umfeld leider mehr denn je. Aber nicht immer ist Desinformation eine Methode des Marketings mit dem Ziel, Umsätze zu steigern. Im Februar haben wir uns erneut mit dem Wert von Impfungen befasst und den Folgen, wenn deren Wirksamkeit und Sicherheit pauschal infrage gestellt werden (9). Diese „Impfskepsis“ hat in Deutschland und Österreich ja eine lange und durchaus bedenkenswerte Tradition (vgl. 10). Wir müssen solche weltanschaulichen Einflüsse auf den wissenschaftlichen Diskurs und die veröffentlichte Meinung ebenso ernst nehmen und hinterfragen wie die kommerziellen. Der potenzielle Schaden für die Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Medizin ist groß und die negativen Folgen für die Gesundheitssysteme am Beispiel der Masernepidemie bereits sichtbar.

Im Dezember haben wir über ein Memorandum renommierter Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachgebieten für mehr vertrauenswürdige Evidenz berichtet (11, 12). Die darin diskutierten Lösungsansätze sind zwar größtenteils nicht neu, jedoch wertvolle Denkanstöße, um in den nächsten Jahren eine intensive Debatte zu führen, wie wir zu mehr Unabhängigkeit von kommerziellen Einflüssen in der Medizin kommen. DER ARZNEIMITTELBRIEF unterstützt die Kernaussagen dieses Memorandums uneingeschränkt:

  • Die weit verbreitete finanzielle Abhängigkeit von der Industrie führt zu Verzerrungen der in der Forschung erhobenen Evidenz, der medizinischen Fort- und Weiterbildung sowie den Entscheidungen im klinischen Alltag.
  • Derartige Verzerrungen bewirken, dass der Nutzen von Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung übertrieben positiv dargestellt wird und ihre Nachteile bzw. ihre Schäden verharmlost werden.
  • Eine größere finanzielle Unabhängigkeit von der Industrie ist wünschenswert und auch möglich, sofern empfohlene Reformen in Forschung, Fort- und Weiterbildung und klinischer Praxis umgesetzt werden.
  • Die vorgeschlagenen Schritte hin zu mehr finanzieller Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen erfordern Veränderungen in der Unternehmenskultur. Wir benötigen vertrauenswürdige Evidenz, um informierte Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.

Nutzen wir auch das kommende Jahr 2020, um gemeinsam mehr Unabhängigkeit und mehr Transparenz in der Medizin zu erreichen! Wir hoffen, dass unsere Artikel im ARZNEIMITTELBRIEF hierzu einen Beitrag leisten und freuen uns auf Ihre Kommentare und Kritik.

Literatur

  1. AMB 2019, 53, 01 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 73 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 89. Link zur Quelle
  2. AMB 2019, 53, 08DB01 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 32. Link zur Quelle
  3. https://www.leitlinienwatch.de/ Link zur Quelle
  4. https://www.escardio.org/Guidelines/Clinical-Practice- Guidelines/Dyslipidaemias-Management-of Link zur Quelle (Abruf am 8.1.2020).
  5. Ioannidis, J.P.: J. Clin. Epidemiol. 2016, 73, 82. Link zur Quelle Vgl. AMB 2016, 50, 32DB01. Link zur Quelle
  6. AMB 2019, 53, 33. Link zur Quelle
  7. https://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/ AVP/vorab/Medizinische_Apps.pdf Link zur Quelle
  8. AMB 2019, 53, 32DB01 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 40DB01. Link zur Quelle
  9. AMB 2019, 53, 09. Link zur Quelle
  10. https://www.derstandard.at/story/ 2000109455158/wie-viel-nazi-ideologie- steckt-im-begriff-schulmedizin Link zur Quelle
  11. Moynihan, R., et al.: BMJ 2019, 367, I6576. Link zur Quelle
  12. AMB 2019, 53, 96DB01. Link zur Quelle