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Leserbrief: Lysetherapie bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall unter Antikoagulation mit Dabigatran

Frage von Dr. K. aus W.: >> Möglicherweise auf Anraten des Herstellers hat sich zuletzt folgende, für mich persönlich kurios anmutende Strategie entwickelt: Wenn ein Patient unter Dabigatran einen Schlaganfall bekommt, dann wird das Antidot gegeben (Idarucizumab) und anschließend eine konventionelle Lysetherapie des Schlaganfalls durchgeführt. Ich frage mich nicht nur, ob dies sinnvoll ist, sondern auch, ob es überhaupt eine Evidenz aus einer prospektiven randomisierten Studie gibt, die dieses Vorgehen bezüglich Kosten, Nutzen und Risiko untersucht hat und rechtfertigt. <<

Antwort: >> Die geschilderte Situation scheint häufiger vorzukommen. In einer einfachen Pubmed-Literaturrecherche finden sich bereits > 100 Publikationen, zumeist Einzelfallberichte und kleinere Fallserien. Zwei Übersichtsarbeiten fassen die publizierten Fälle zusammen. Im Jahr 2017 haben Kollegen aus Salzburg, München und London 21 publizierte Fälle analysiert (1). Demnach gab es bei der geschilderten Behandlungssequenz (Dabigatran – Idarucizumab – Thrombolyse mit rtPA) keine Todesfälle. Bei 16% der Patienten wurde ein neurologisch „ungünstiger Ausgang“ beschrieben. Ein Patient erlitt nach der Thrombolyse erneut einen Schlaganfall. Systemische Blutungen, Venenthrombosen oder allergische Reaktionen wurden nicht angegeben. Die Autoren folgerten, dass die Erfahrung mit diesem Vorgehen noch begrenzt ist und dass größere Kohortenstudien erforderlich sind, um die Sicherheit dieser Therapie zu bewerten.

Im vergangenen Jahr erschien eine zweite, etwas detailliertere Übersichtsarbeit aus Italien (2). Darin wurden 55 „Fälle“ analysiert, die sich mit der ersten Übersichtsarbeit überlappen. Bei 75% bestand vor Idarucizumab-Injektion eine verlängerte aPTT (> 35 s) und bei 96% eine verlängerte TZ (> 20 s) als Nachweis einer wirksamen Antikoagulation. Alle Patienten erhielten Idarucizumab und danach eine Thrombolyse mit rtPA, davon vier in reduzierter Dosis. Das mittlere Zeitintervall von Beginn der Symptome bis zur Durchführung der Thrombolyse betrug 174 Minuten. Sieben Patienten hatten zu Beginn milde (NIHSS 1-4), 34 moderate (NIHSS 5-15), 6 schwere (NIHSS 16-20) und 7 sehr schwere (NIHSS 21-42) neurologische Ausfälle. Die National Institutes of Health Stroke Scale (NIHSS) gibt die Schwere der neurologischen Ausfälle auf einer Skala von 0-42 Punkten an. Je höher der Score, desto ausgedehnter ist der Schlaganfall (vgl. 3). Bei insgesamt 45 Patienten (82%) verbesserten sich im Verlauf die NIHSS-Werte, im Median um 5 Punkte (IQR: 3-10). Vier Patienten blieben bei ihrem Ausgangswert und sechs Patienten verschlechterten sich. Ein Patient erlitt 30 Minuten nach Beginn der Thrombolyse einen zweiten Schlaganfall, zwei verschlechterten sich neurologisch und vier starben. Bei einem Patienten kam es zu einer asymptomatischen hämorrhagischen Transformation des Insults. Weitere thrombotische oder hämorrhagische Ereignisse wurden nicht berichtet.

Die Autoren interpretieren die Beobachtung, dass sich die neurologischen Symptome unter rtPA verbessern, dahingehend, dass die Thrombolyse trotz vorheriger Idarucizumab-Injektion wirkt. Sie schlussfolgern, dass das Vorgehen im realen Leben „machbar“ (feasible) ist. Das scheint auch der gegenwärtige Diskussionsstand in der Neurologie zu sein; jedoch finden sich hierzu keine dezidierten Empfehlungen in Leitlinien.

Aus unserer Sicht sind noch folgende Anmerkungen zu machen:

  1. Es handelt sich bei diesen Daten nicht um systematische Auswertungen, z.B. im Rahmen eines Registers, sondern um unsystematische Einzelfallberichte. Daher ist von einem Publikationsbias eher zu Gunsten der Strategie auszugehen, da Erfolge gerne publiziert werden, Misserfolge jedoch nicht.

  2. Die Nutzen-Risiko-Relation ist auf dieser Datengrundlage nicht zu beurteilen. Die Evidenz für die „Machbarkeit“ ist also als sehr gering einzuschätzen.

  3. Auch eine Kosten-Nutzen-Analyse ist nicht möglich, da der Nutzen unklar ist.

  4. Das geschilderte Vorgehen muss als individueller Heilversuch betrachtet und in jedem Fall genauestens dokumentiert werden. In der Deklaration von Helsinki steht hierzu unter Punkt 37: „Bei der Behandlung eines einzelnen Patienten, für die es keine nachgewiesenen Maßnahmen gibt oder andere bekannte Maßnahmen unwirksam waren, kann der Arzt nach Einholung eines fachkundigen Ratschlags mit informierter Einwilligung des Patienten oder eines rechtlichen Vertreters eine nicht nachgewiesene Maßnahme anwenden, wenn sie nach dem Urteil des Arztes hoffen lässt, das Leben zu retten, die Gesundheit wiederherzustellen oder Leiden zu lindern. Diese Maßnahme sollte anschließend Gegenstand von Forschung werden, die so konzipiert ist, dass ihre Sicherheit und Wirksamkeit bewertet werden können. In allen Fällen müssen neue Informationen aufgezeichnet und, sofern angemessen, öffentlich verfügbar gemacht werden.“ (vgl. 4).

  5. Es handelt sich in dieser Indikation, sowohl bei Idarucizumab als auch bei rtPA, nach unserer Einschätzung um eine Off-label-Anwendung. Der Hersteller darf daher diese Indikation weder vorschlagen noch bewerben.

  6. Formal wäre das geschilderte Vorgehen aber leitlinienkonform, wenn die genannten Gerinnungsparameter in den Normbereich gebracht würden. In der gültigen AHA-Leitlinie zum Management des akuten Schlaganfalls aus dem Jahr 2018 steht (5): „The use of iv alteplase in patients taking direct thrombin inhibitors or direct factor Xa inhibitors has not been firmly established but may be harmful. IV alteplase should not be administered to patients taking direct thrombin inhibitors or direct factor Xa inhibitors unless laboratory tests such as aPTT, INR, platelet count, ecarin clotting time, thrombin time, or appropriate direct factor Xa activity assays are normal or the patient has not received a dose of these agents for > 48 h (assuming normal renal metabolizing function).“ <<

Literatur

  1. Pikija, S., et al.: CNS Drugs 2017, 31, 747. Link zur Quelle
  2. Giannandrea, D., et al.: J. Neurol. Neurosurg. Psychiatry 2019, 90, 619. Link zur Quelle
  3. AMB 2013, 47, 57. Link zur Quelle
  4. https://www.bundesaerztekammer.de/ fileadmin/user_upload/downloads/ pdf-Ordner/International/Deklaration _von_Helsinki_2013_20190905.pdf Link zur Quelle
  5. Powers, W.J., et al.: Stroke 2018, 49, e46. Link zur Quelle