Schon früh in der SARS-CoV-2-Pandemie wurde beobachtet, dass es bei schweren Verläufen von COVID-19 häufiger als bei Infektionen durch andere virale oder bakterielle Erreger zu arteriellen und venösen Mikro- und Makrothrombosen kommt. Diese können schwerwiegende und potenziell fatale Komplikationen nach sich ziehen, wie z.B. Lungenembolien, koronare und zerebrovaskuläre Ischämien sowie andere Organschäden. Nach ersten klinischen Fallberichten gab es im Frühsommer 2020 auch entsprechende Befunde aus Autopsiestudien, über die wir berichtet haben (1).
Die Evidenz zur Häufigkeit von Thrombosen ist begrenzt, denn es mangelt an exakten und vergleichbaren Daten aus großen Studien. Eine kürzlich in einem neuen Open-Access-Journal des Lancet (EClinicalMedicine) erschienene Metaanalyse von 42 Studien beschreibt folgende Raten thromboembolischer Komplikationen bei insgesamt 8.271 SARS-CoV-2-infizierten stationären Patienten (2): tiefe Beinvenenthrombosen (TBVT) 20%, pulmonale Embolien (PE) 13%, arterielle Thromboembolien (aTE) 2%. Bei intensivpflichtigen Patienten betrugen die Raten für TBVT 28%, für PE 19% und für aTE 5%. Die Häufigkeit thromboembolischer Komplikationen liegt deutlich – teilweise um ein Vielfaches – über der, die im Rahmen anderer Infektionen, wie z.B. Influenza oder mit Pneumokokken beschrieben wurde, und sie ist mit einer um 74% höheren Mortalität assoziiert (Odds Ratio: 1,74; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,01-2,98; p = 0,04).
Ursächlich für diese „COVID-19-assoziierte Koagulopathie“ dürften inflammatorische Gefäßschäden sein durch eine direkte, ACE2-Rezeptor-vermittelte Endothelinfektion im Rahmen einer SARS-CoV-2-Virämie sowie durch proinflammatorische Zytokine. Dazu kommen, wie bei anderen schweren Infektionen, die Aktivierung der plasmatischen Gerinnung und Thrombozytenaggregation im Rahmen der systemischen Entzündungsreaktion sowie prothrombotische Effekte von Immobilisierung, mechanischer Beatmung und zentralvenösen Kathetern.
Bereits in den ersten Monaten der Pandemie gab es mehrere Publikationen zur antikoagulatorischen Therapie (AT) bei COVID-19 aus kleinen Fallserien mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die bis dahin statistisch sorgfältigste retrospektive Analyse wurde im Oktober 2020 in J. Am. Coll. Cardiol. publiziert. Untersucht wurde die Wirkung einer AT auf klinische Endpunkte (Mortalität, Intubation, schwere Blutung) bei 4.389 stationär behandelten US-amerikanischen COVID-19-Patienten (3). Die AT in therapeutischer Dosis (n = 900; 20,5%) und AT in prophylaktischer Dosis (n = 1.959; 44,6%) waren im Vergleich zu einer Behandlung ohne AT (n = 1.530; 34,9%) mit einer geringeren Mortalität (adjusted Hazard Ratio = aHR: 0,53; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,45-0,62 bzw. aHR: 0,50; CI: 0,45-0,57) und mit einer niedrigeren Intubationswahrscheinlichkeit assoziiert (aHR: 0,69; CI: 0,51-0,94 bzw. aHR: 0,72; CI: 0,58-0,89). Schwere Blutungen traten unter therapeutischer AT bei 3,0%, unter prophylaktischer AT bei 1,7% und ohne AT bei 1,9% der Patienten auf. Die therapeutische AT war im Vergleich zur prophylaktischen AT mit einer statistisch nicht signifikanten geringeren Mortalität assoziiert. Die Ergebnisse gelten für niedermolekulares Heparin (NMH); die Gruppen mit unfraktioniertem Heparin (UFH) und direkten Antikoagulanzien (DOAK) waren für eine statistische Auswertung zu klein.
In zahlreichen Behandlungszentren und Gesundheitssystemen wurden empirische Protokolle zur AT etabliert. Vielerorts gehört eine AT mit NMH in höherer (z.B. „halbtherapeutischer“) Dosierung neben der supportiven intensivmedizinischen Behandlung und Dexamethason zum therapeutischen Basisstandard bei intensivpflichtigen Patienten mit COVID-19. Alle hospitalisierten COVID-19-Patienten sollten „zumindest“ eine prophylaktische AT erhalten (s. 4, 5). Viele Fragen bleiben jedoch vorerst offen – so etwa zur Indikation der AT (klinische Kriterien? Bedeutung von Biomarkern wie z.B. D-Dimer?), Dosierung, Dauer und Art der AT (NMH? UFH? DOAK? ASS? ADP-Rezeptor-Antagonisten wie z.B. Clopidogrel?). Weltweit laufen randomisierte kontrollierte Studien (RCT) zu dieser Therapie, die meisten davon allerdings mono- oder oligozentrisch.
Um eine dringend notwendige Klärung möglichst rasch und mit ausreichend großer Zahl an Studienpatienten zu erreichen, haben sich kürzlich in einer neuartigen Kooperation drei verhältnismäßig große multizentrische RCT zusammengeschlossen:
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REMAP-CAP (6) untersucht unterschiedliche Therapien einschließlich AT bei ambulant erworbenen Pneumonien. Die Studie wurde bereits vor der SARS-CoV-2-Pandemie begonnen und rekrutiert nun auch COVID-19-Patienten (zahlreiche Zentren global, inkl. 11 deutsche Zentren; initiiert von der Universität Utrecht, Niederlande; adaptives Design, Patientenzahl und Ende nicht prädefiniert).
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ACTIV-4 (7) untersucht unterschiedlichste Wirkstoffe und Dosierungen zur AT bei drei Gruppen von COVID-19-Patienten: hospitalisierte, nicht hospitalisierte und entlassene Patienten (Zentren in USA und Spanien; initiiert von den US-amerikanischen National Institutes of Health = NIH; gesponsert von zahlreichen pharmazeutischen Unternehmern; adaptives Design, voraussichtlich 2.000 Patienten; primäres Studienende: März 2021).
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ATTACC (8) vergleicht UFH und unterschiedliche NMH bei hospitalisierten COVID-19-Patienten (Zentren in Nord-, Mittel-, Südamerika; initiiert von der Universität Manitoba, Kanada; adaptives Design, voraussichtlich 3.000 Patienten; primäres Studienende: Januar 2021).
Die drei Studien befinden sich aktuell in der Einschlussphase und haben das gemeinsame Ziel, die Wirkung einer prophylaktischen AT im Vergleich zu einer therapeutischen AT bei moderat (nicht intensivpflichtig) und schwer (intensivpflichtig) erkrankten, hospitalisierten, erwachsenen COVID-19-Patienten zu evaluieren. Nach aktuellen Zwischenanalysen aus dieser „Studienplattform“ stellt sich für diese Patientengruppen der Status quo wie folgt dar:
„Schwer erkrankte“ (= intensivpflichtige) COVID-19-Patienten: Im Dezember 2020 wurde überraschenderweise der Einschluss dieser Patienten in allen drei Studien vorerst unterbrochen, wie die NIH Ende Dezember mitteilten (9). Im Protokoll vorgesehene routinemäßige Zwischenanalysen durch unabhängige Komitees hatten gezeigt, dass die therapeutische AT in dieser besonders vulnerablen Gruppe keinen Einfluss auf den Bedarf für Organunterstützung hatte und ein negativer Effekt (vermehrt Blutungen) nicht ausgeschlossen werden konnte. Daten wurden bislang nicht publiziert, da weitere Analysen noch laufen.
„Moderat erkrankte“ (= nicht intensivpflichtige) hospitalisierte COVID-19-Patienten: Der Patienteneinschluss dieser besonders wichtigen Gruppe, die die Mehrzahl der Krankenhauspatienten ausmacht, läuft in den drei Studien vorerst wie geplant weiter. Laut einer aktuellen kurzen Pressemitteilung der University of Manitoba (10) habe die Zwischenanalyse der Daten von mehr als 1.300 Patienten aus dieser Gruppe ergeben, dass eine therapeutische AT „nicht nur sicher, sondern auch der prophylaktischen AT überlegen“ sei. Details wurden allerdings nicht publiziert.
Die oben erwähnte ACTIV-4-Studie schließt außerdem die beiden folgenden Patentengruppen ein und wird zu ihnen hoffentlich die ersten verlässlichen Daten bringen.
Ambulante COVID-19-Patienten: Keine Studienergebnisse und daher keine Empfehlungen zur AT gibt es vorerst für leichter erkrankte, nicht hospitalisierte COVID-19-Patienten. Zumindest bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren (z.B. Immobilisierung, Adipositas, TBVT/PE in der Vergangenheit) kann man eine solche nach individueller Risiko-Nutzen-Abschätzung möglicherweise großzügig in Erwägung ziehen. Dies wird von niedergelassenen Ärzten vielfach bereits so praktiziert (11). Definitiv keine Indikation für eine AT besteht für asymptomatische SARS-CoV-2-positiv getestete Personen. Patienten, die aus anderer Indikation unter einer Dauerantikoagulation stehen, sollten diese selbstverständlich weiterführen.
Entlassene COVID-19 Patienten ohne stattgehabte thromboembolische Komplikationen: Auch für diese Patientengruppe existieren derzeit keine Empfehlungen. Ob für individualisierte Entscheidungen neben den bereits oben genannten Risikofaktoren künftig auch andere Kriterien (z.B. Schweregrad oder persistierende Folgen der abgelaufenen COVID-19-Erkrankung, Biomarker) relevant sein können, werden künftige Studien zeigen.
Fazit: Der Stellenwert einer Antikoagulation in der COVID-19-Therapie bleibt vorerst unsicher. Bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten ist eine höher dosierte Antikoagulation, wie sie seit Mitte 2020 in vielen Zentren routinemäßig praktiziert wird, aktuellen vorläufigen Studiendaten zufolge möglicherweise mit einem ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis verbunden, während mäßig schwer erkrankte (nicht intensivpflichtige) hospitalisierte COVID-19-Patienten profitieren dürften. Viele Fragen sind jedoch noch offen, und die endgültigen Ergebnisse mehrerer laufender kontrollierter randomisierter Studien bleiben abzuwarten. Keine generellen Empfehlungen für eine Antikoagulation können derzeit gegeben werden bei leicht erkrankten (ambulanten) COVID-19-Patienten und bei entlassenen Patienten nach einer COVID-19-Erkrankung. Definitiv keine Indikation für eine Antikoagulation haben asymptomatische SARS-CoV-2-positiv getestete Personen.
Literatur
- AMB 2020, 54, 52DB01. Link zur Quelle
- Malas, M.B., et al.: EClinicalMedicine 2020, 29,100639. Link zur Quelle
- Nadkarni, G.N., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2020, 76, 1815. Link zur Quelle
- Kluge, S., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2021, 118, 1. Link zur Quelle
- https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/113-001.html Link zur Quelle
- Berry, A.D.C., et al. (REMAP-CAP = Randomised, Embedded, Multi-factorial, Adaptive Platform trial for Community-Acquired Pneumonia): Ann.Am.Thorac.Soc. 2020, 17, 879. Link zur Quelle
- ACTIV-4 = Anti-thrombotics for adults hospitalized with COVID-19. Link zur Quelle
- ATTACC = Antithrombotic Therapy To Ameliorate Complications of COVID-19. Link zur Quelle
- https://www.nhlbi.nih.gov/news/2020/ nih-activ-trial-blood-thinners-pauses-enrollment- critically-ill-covid-19-patients Link zur Quelle
- https://news.umanitoba.ca/blood-thinners-decreased-need-for-life-support -and-improved-outcomes- in-hospitalized-covid-19-patients/ Link zur Quelle
- persönliche Mitteilungen.