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Reanalyse der FOURIER-Studienergebnisse: Skandal oder nur Sturm im Wasserglas?

Im Jahr 2017 wurde im N. Engl. J. Med. die FOURIER-Studie publiziert, über die wir mehrfach berichtet haben ([1], vgl. [2]). In dieser Studie wurde Evolocumab (Evo), ein Hemmer der Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 (PCSK9), bei > 27.500 Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko getestet. Durch Evo sank der LDL-Cholesterinwert – zusätzlich zu einer Standard-Behandlung mit Statinen – um weitere 59%. Nach einer im Median 26-monatigen Behandlung wurde auch der kombinierte primäre Studienendpunkt „MACE“ (Major Adverse Cardiovascular Event, bestehend aus kardiovaskulärem Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall, Krankenhausbehandlung wegen Angina pectoris oder koronarer Revaskularisation) um relativ 15% und absolut um 1,5% gesenkt. Bemerkenswerterweise wurde die Mortalität jedoch nicht vermindert. Sie zeigte sogar in eine andere Richtung: Todesfälle insgesamt: 3,2% (Evo) vs. 3,1% (Plazebo); kardiovaskuläre Todesfälle: 1,8% (Evo) vs. 1,7% (Plazebo; vgl. [2]). Trotzdem wurden die PCSK9-Hemmer rasch in kardiologische Leitlinien aufgenommen und sind heute Bestandteil des Behandlungsalgorithmus.

Wegen der Diskrepanz zwischen „MACE“ und den Daten zur Mortalität wollten Wissenschaftler vom „Navarra Institute for Health Research“ (IdiSNA) in Spanien und dem „Department of Anesthesiology, Pharmacology & Therapeutics der University of British Columbia“ in Vancouver, Kanada, die FOURIER-Ergebnisse überprüfen. Sie haben die Hypothese überprüft, dass die Behandlung mit Evo möglicherweise Risiken hat, die seinen Nutzen aufwiegen. Über den Verlauf und das Ergebnis dieser Überprüfung haben sie kürzlich im BMJ Open berichtet [3].

Juan Erviti und Kollegen bedienten sich dabei einer Methodik, die vor > 10 Jahren von der sog. „Restoring Invisible and Abandoned Trials“ (RIAT)-Initiative vorgestellt wurde [4]. Ziel dieser Initiative ist es, unsichtbare Studienergebnisse ans Licht zu bringen („abandoned trials“; vgl. [5]) und fehlerhafte Ergebnisdarstellungen zu korrigieren. Ohne solche unabhängigen Nachuntersuchungen wären das tatsächliche Nutzen-Risiko-Verhältnis, beispielsweise von Oseltamivir (Tamiflu®) oder Gabapentin, wohl nie bekannt geworden [6][7].

Die RIAT-Methode folgt einem definierten Protokoll. Im Fall der Nachanalyse der FOURIER-Daten wurde zunächst versucht, mit dem Erstautor Marc Sabatine von der Harvard Medical School in Kontakt zu treten. Nachdem dieser auf mehrere Anfragen per E-Mail nicht geantwortet hatte, wurde im April 2019 im British Medical Journal ein sog. „Call-to-Action Paper“ veröffentlicht [8]. Mit dieser Bekanntmachung soll allen Studienbeteiligten die Möglichkeit gegeben werden, auf die Fragen innerhalb eines Jahres zu antworten. Zugleich forderten Erviti et al. bei drei Arzneimittelagenturen die ausführlichen Studienunterlagen an: bei der europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), der US-amerikanischen (FDA) und der kanadischen (Health Canada). Obwohl alle diese Behörden gesetzlich zur Transparenz verpflichtet sind, gewährte nur Health Canada einen brauchbaren Zugang zu dem > 25.000 Seiten umfassenden „clinical study report“ (CSR). Die FDA antwortete, dass die Übermittlung 5-7 Jahre dauern werde, und die EMA lieferte die Dokumente nur scheibchenweise. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass es viele rechtliche Hürden gibt (Schutz von Persönlichkeits- und Urheberrechten), weshalb solche Passagen geschwärzt werden müssen. Der ebenfalls erbetene Zugang zu den anonymisierten individuellen Fallberichtsformularen („case report forms“ = CRF) wurde von keiner Zulassungsbehörde ermöglicht. Sowohl die EMA als auch Health Canada gaben an, dass sie gar nicht im Besitz der CRFs sind und die FDA, dass sie diese aufgrund von Arbeitsüberlastung frühestens in 5 Jahren liefern kann.

Als ein Jahr nach Veröffentlichung des „Call-to-Action Paper“ wiederum niemand reagiert hatte, begann im September 2020 das 6-köpfige sog. „Readjudication Committee“ (RC) das von Health Canada übergebene CSR zu analysieren. Dabei fanden sich einige Ungereimtheiten. So wurden die „MACE“-Ereignisse von der Studiengruppe nur als Wirksamkeits- und nicht als Sicherheitsendpunkt behandelt und entsprechend vom „Safety Committee“ nicht näher untersucht. Plötzliche Todesfälle oder Herzversagen wurden nicht genauer charakterisiert, und es gab in diesen Fällen offenbar keine systematischen Obduktionen.

Alle für das Studienergebnis wichtigen Informationen zu den klinischen Ereignissen wurden vom 18-köpfigen „Clinical Event Committee“ (CEC) bewertet. Die Mitglieder legten nach Sichtung der Unterlagen die Todesursache fest („adjudicated cause of death“) und klassifizierten den Todesfall nach festgelegten Kriterien in 3 Kategorien: kardiovaskulär, nicht-kardiovaskulär und unklar. Das RIAT-RC versuchte diese Bewertungen nun an Hand der Schilderungen im CSR nachzuvollziehen.

Ergebnisse der Neubewertung: Insgesamt sind im CSR 870 Todesfälle aufgeführt. Alle werden von Erviti et al. in einem Supplement mit > 1.000 Seiten veröffentlicht. Es handelt sich jeweils um eine bearbeitete Zusammenfassung mit vielen Schwärzungen.

Bei den Nachanalysen zeigte sich, dass bei 360 Todesfällen (41,4%) die Einordnung der Todesursache durch das CEC von der der behandelnden Ärzte abwich. Dies ist zwar bemerkenswert, aber grundsätzlich nicht ungewöhnlich, da bei der Todesfeststellung meist nicht alle relevanten Informationen vorliegen.

Viele der Bewertungen des CEC waren für das RIAT-RC nicht nachvollziehbar. Exemplarisch werden Fälle zitiert. So starb ein Mann laut der behandelnden Ärzte infolge eines akuten Myokardinfarkts an einem kardiogenen Schock. Das CEC klassifizierte diesen Fall später als „nicht kardiovaskulärer Tod“ infolge eines Traumas. In 226 Fällen (26%) waren zudem die Bewertungen durch das CEC nach Ansicht der RIAT-RC in sich nicht konsistent, d.h. die festgestellten Todesursachen und die zugeordneten Todeskategorien passten nicht. So wurden 136 Todesfälle vom CEC als „unklar“ klassifiziert, obwohl es bei 100 eine kardiovaskuläre Todesursache festgestellt hatte, z.B. plötzlicher Herztod, Schlaganfall oder Herzversagen.

Eine Neubewertung durch das RIAT-RC war letztlich nur bei 562 Todesfällen möglich; bei 308 Fällen (35,4%) waren die Informationen im CSR hierzu nicht ausreichend. Bei dieser Neubewertung kamen Evriti et al. zu einer deutlich höheren Zahl kardiovaskulärer Todesfälle in der Evo- als in der Plazebo-Gruppe (n = 113 vs. 88). Im Vergleich zu den Angaben in der Originalpublikation fanden sie beispielsweise 11 zusätzliche tödliche Herzinfarkte in der Evo-Gruppe und 3 weniger in der Plazebo-Gruppe. Auch fand sich im Evo-Arm eine fast doppelt so hohe Zahl an Herzversagen: n = 31 vs. 16.

Letztlich meinen die Autoren, genügend Indizien dafür gefunden zu haben, dass die kardiovaskuläre Sterblichkeit unter der Behandlung mit Evo in der FOURIER-Studie höher ist als in der Original-Publikation angegeben. Sie zweifeln die Validität der Bewertungen des CEC an und stellen die grundsätzliche Frage, wer eigentlich die Arbeit solcher Komitees kontrolliert.

Diskussion: Nach der Veröffentlichung im BMJ Open reagierte der FOURIER-Erstautor und Vorsitzende der Studiengruppe Marc Sabatine und einige seiner akademischen Koautoren, darunter der Vorsitzende des CEC, Stephen D. Wiviott, sehr heftig. In einem „rapid response letter“ (9) bezeichnen sie die Analysen von Erviti et al. als grundlegend fehlerhaft. Es seien unvollständige Daten verwendet worden, um zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen. Dies sei keine Wissenschaft, sondern reine Sensationslust und leiste der medizinischen Forschung einen Bärendienst. Alle Bewertungen durch das CEC seien nach festgelegten und von der FDA akzeptierten Kriterien erfolgt und auf der Basis aller verfügbaren Dokumente, inklusive Sterbeurkunden und Obduktionsberichten. Jeder Fall sei verblindet von hierfür befähigten Spezialisten ausgewertet worden. Die Nachsicht des geschilderten Falles habe beispielsweise gezeigt, dass dieser in seiner Küche ausgerutscht, auf den Kopf gefallen und mit einem Schädel-Hirntrauma ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bevor er starb. Belege für diese Version oder eine Erklärung warum die behandelnden Ärzte einen kardiogenen Schock kodiert haben, bleiben sie freilich schuldig. Immerhin kündigen sie an, die RIAT-Analysen nun zu widerlegen, um die Fehlinformationen rasch aus der Welt zu schaffen.

Das wird aber nicht ausreichen, denn die FOURIER-Autoren sind befangen. Schließlich steht ihre wissenschaftliche Reputation auf dem Spiel, und die meisten von ihnen haben relevante Interessenkonflikte mit dem Studiensponsor [9]. Im Übrigen wäre es wissenschaftlich seriös gewesen, wenn sie schon früher auf die Fragen von Evriti et al. reagiert hätten. Damit hätten sie anderen Wissenschaftlern mit ihren berechtigten Bedenken Respekt gezollt und Vieles im Vorfeld klären können.

Aus unserer Sicht irritiert bei dem gesamten Vorgang auch die Rolle der Zulassungsbehörden. Kann es sein, dass die EMA/EU und Health Canada ein neues Medikament zulassen, ohne jemals ein CRF angesehen zu haben oder zumindest stichprobenartig die inhaltliche Arbeit der Auswertungs-Komitees zu prüfen? Ein derart „blindes“ Vertrauen könnte nur als grobe Vernachlässigung ihrer Pflichten angesehen werden. Daher sind auch von dieser Seite Erklärungen erforderlich.

Jedenfalls haben Evriti et al. auf mögliche Probleme hingewiesen, die für die wissenschaftsbasierte Medizin insgesamt von großer Bedeutung sind. Wir müssen uns alle auf die korrekte Durchführung und Auswertung von Studienergebnissen verlassen können. Hierzu sind zumindest stichprobenartige unabhängige Überprüfungen an Hand der Rohdaten unabdingbar. Diese dürfen auch nicht erst nach vielen Jahren erfolgen, wenn ein möglicherweise entstandener Schaden längst irreparabel ist.

Literatur

  1. Sabatine, M.S., et al. (FOURIER = Further cardiovascular OUtcomes Research with PCSK9 Inhibition in subjects with Elevated Risk): N. Engl. J. Med. 2017, 376, 1713. (Link zur Quelle)
  2. AMB 2017, 51, 33. (Link zur Quelle)
  3. Erviti, J., et al.: BMJ Open 2022, 12, e060172. (Link zur Quelle)
  4. Doshi P., et al.: BMJ 2013, 346, f2865. https://www.bmj.com/content/346/bmj.f2865. Erratum: BMJ 2013, 346, f4223. (Link zur Quelle)
  5. AMB 2016, 50, 96DB01. (Link zur Quelle)
  6. AMB 2014, 48, 48DB01. (Link zur Quelle)
  7. Vedula, S.S., et al.: PLoS Med. 2013, 10, e1001378. (Link zur Quelle)
  8. Erviti, J., et al.: Rapid Response to (4). Call to action: RIAT restoration of a misreported clinical trial on evolocumab (10.4.2019). (Link zur Quelle)
  9. Correspondent: BMJ Open, 11 January 2023. (Link zur Quelle)