Vor dieser Entscheidung stehen viele Ärzte in diesen Tagen. Der Druck aus den Printmedien, von der Industrie, den „Key Opinion Leaders” und auch von Seiten der Verfasser von Leitlinien Leitlinien wächst. Jüngst fragte eine Moderatorin bei einem industriegesponserten Expertengespräch auf der Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Kardiologie die anwesenden und zweifelsfrei sehr gut bezahlten Professoren, ob es bei der bestehenden Datenlage für die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) überhaupt noch ethisch (!) vertretbar sei, einen Vitamin-K-Antagonisten (VKA) zu verschreiben. Ein kardiologischer Lehrstuhlinhaber aus dem Norden Deutschlands wollte das nicht ganz so zugespitzt formuliert wissen, legte sich dann jedoch fest: Wenn seine Mutter heute antikoaguliert werden müsste, dann würde er ihr ein NOAK geben, natürlich das, vor dessen Logo er saß. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing!
Die Behandlung mit VKA ist und war immer schwierig. Viele Patienten sind unzureichend antikoaguliert und ein Teil ist überantikoaguliert. Das Risiko dieser Patienten, Schaden zu nehmen durch ein thrombotisches Ereignis oder durch eine Blutung, ist sehr bedeutsam, sowohl für den Betroffenen als auch für die Gesellschaft.
Die Gründe für die unzureichende Einstellung in den therapeutischen Bereich sind vielfältig. VKA beeinflussen sehr umfangreich die plasmatische Gerinnung durch die Hemmung von vier Gerinnungsfaktoren. Sie haben eine geringe therapeutische Breite und der individuelle Bedarf ist aus pharmakokinetischen und -dynamischen Gründen sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass VKA viele Interaktionen mit anderen Arzneimitteln und Nahrungsmitteln haben. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist, dass man die Therapie eng überwacht. Die INR-Messung ist ein festes Ritual der oralen Antikoagulation mit VKA. Sie sorgt im Idealfall für Therapiesicherheit, aber auch für regelmäßige Arztkontakte und gut aufgeklärte Patienten. Das ist ein sehr positiver und nicht zu unterschätzender Nebeneffekt.
Auf der anderen Seite werden weit mehr als ein Drittel der Patienten mit einer Indikation zur oralen Antikoagulation (meist Vorhofflimmern) aus Furcht vor den Blutungskomplikationen (Stürze!) oder wegen eines unsicheren INR-Monitorings überhaupt nicht antikoaguliert. Rechnet man noch die Patienten hinzu, die mit einem VKA behandelt werden, sich aber außerhalb des therapeutischen Bereichs befinden, dann ist klar, dass Alternativen willkommen sind.
Daher haben wir uns auch in den vergangenen Jahren für diese problematischen Patienten immer eine einfachere Alternative gewünscht. Nun sind mit Dabigatran (Pradaxa®), Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®) drei neue orale Antikoagulantien zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern zugelassen (vgl. 1). Die Mittel können bei Patienten verordnet werden, die zusätzlich mindestens einen Risikofaktor für embolische Ereignisse haben, wie z.B. einen vorausgegangenen Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder ein Alter ≥ 75 Jahre.
Tatsächlich sind alle drei zugelassenen NOAK beim Vorhofflimmern hinsichtlich der Verhinderung von Schlaganfällen etwa gleich wirksam wie der VKA Warfarin; das haben die Studien RE-LY, ROCKET-AF und ARISTOTLE nachgewiesen. Apixaban und Dabigatran (zweimal 150 mg/d) waren Warfarin sogar leicht überlegen. Der Vorteil war jedoch marginal: In 1000 Behandlungsjahren wurden mit zweimal 150 mg/d Dabigatran etwa sechs und mit Apixaban drei Insulte mehr verhindert als mit Warfarin (2). Also müssten 170 bzw. 330 Patienten ein Jahr lang mit zweimal 150 mg/d Dabigatran bzw. Apixaban statt mit Warfarin behandelt werden, um einen Insult zusätzlich zu verhindern.
Die Aussagekraft der Studienergebnisse ist inbesonders dadurch eingeschränkt, dass die Qualität der INR-Einstellung unter Warfarin in vielen Studienzentren unzureichend war. In den Studien mit Dabigatran und Apixaban lagen die INR-Werte nur zu 66% im therapeutischen Bereich und in der mit Rivaroxaban nur zu 58%. Angestrebt werden für die „Time in Therapeutic Range” (TTR) Werte über 70%; sie wurden in den deutschen Zentren auch knapp erreicht. Aktuelle schwedische Registerdaten zeigen, dass dieses Ziel auch in der Routineversorgung zu erreichen ist (3). In der Bilanz von ischämischen Ereignissen und schweren Blutungen ist der Vorteil von Dabigatran (zweimal 150 mg/d) und Apixaban in Zentren mit einer TTR von 66% nicht mehr nachweisbar. Ab einer TTR von 73% ist Warfarin sogar Dabigatran überlegen.
Blutungen sind wie bei allen gerinnungshemmenden Arzneimitteln auch unter den NOAK das Hauptproblem. Nach der Zulassung von Dabigatran wurden der US-amerikanischen Zulassungsbehörde (Food and Drug Administration = FDA) viele schwere Blutungen gemeldet. Deswegen werteten drei Mitarbeiter der FDA in einem „Mini-Sentinel” Versicherungsdaten aus (4, 8). Solche Registerstudien sind retrospektiv durchgeführte, nicht-interventionelle Studien, die nicht das Evidenzniveau von randomisierten kontrollierten Studien erreichen. Die Ergebnisse dieses Mini-Sentinels zeigen, dass die Blutungen unter neuer Anwendung von Dabigatran nicht häufiger zu sein scheinen als unter neuer Anwendung von Warfarin. Die FDA interpretiert die große Anzahl der Meldungen aus der Spontanerfassung zu Blutungen als „stimulated reporting”, wie es infolge von Medienberichten und bei neuen Arzneimitteln häufiger vorkommen kann.
Die sach- und fachgerechte Anwendung der NOAK erfordert zwingend eine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz und die Beachtung möglicher Arzneimittelinteraktionen. Die Therapie muss daher auch immer wieder hinsichtlich Veränderungen in der Komedikation und der Nierenfunktion überprüft und ggf. angepasst werden. Die Aufmerksamkeit muss praktisch ebenso hoch sein wie bei den VKA, auch wenn keine Routinekontrollen der INR mehr notwendig sind. Das betrifft nicht nur die Hausärzte, sondern alle behandelnden Ärzte. Zudem muss die Indikation streng eingehalten (z.B. nicht bei mechanischen Herzklappen) und die mittlerweile gut etablierten Regeln bei Umstellungen oder bei perioperativen Pausen genau beachtet werden.
Die Bedenken wegen eines fehlenden Antidots bei den NOAK sind groß. Es wird argumentiert, dass es ja auch kein spezifisches Antidot für VKA gibt. Allerdings ist die antikoagulatorische Wirkung von VKA durch die Gabe von Prothrombinkomplex (PPSB) rasch aufzuheben. Auch bei den NOAK gibt es Strategien zum Vorgehen bei Blutungen (Dabigatran: aktivierte Prothrombinkomplex-Päparate = FEIBA, rekombinanter Faktor VIIa; Rivaroxaban, Apixaban: PPSB), deren Stellenwert aber noch diskutiert wird. FEIBA und rekombinanter Faktor VIIa sind nicht überall verfügbar. Antidote für die NOAK sind in Entwicklung (5). Wann sie auf den Markt kommen, ist allerdings noch nicht klar.
Die reinen Arzneimittelkosten der neuen Antikoagulanzien sind ca. 20mal höher als von Phenprocoumon. Übrigens sind die drei erhältlichen NOAK auf wundersame Weise praktisch gleich teuer. In jeder anderen Branche würden wohl der Wettbewerbskommissar der EU oder die Kartellbehörden wegen Preisabsprachen ermitteln.
Wer soll nun die teuren NOAK erhalten (vgl. 7)? Patienten, die sich schwer auf VKA einstellen lassen (stark schwankende INR-Werte) oder Patienten, die das INR-Monitoring ablehnen bzw. bei denen das nicht durchgeführt werden kann. Keine Indikation für NOAK haben Patienten, die bereits gut auf einen VKA eingestellt sind und bei denen die INR-Kontrollen gut funktionieren. Auch eine unsichere Therapieadhärenz spricht gegen die Gabe eine NOAK. Besonders blutungsgefährdete Patienten sollten ebenfalls keine NOAK erhalten, da VKA besser zu überwachen und zu antagonisieren sind. Bis zuverlässige Methoden zur Messung der antikoagulierenden Wirkung und Antidote für die NOAK allgemein verfügbar sind, sollten auch Patienten, die neu mit einem Antikoagulans eingestellt werden müssen, weiterhin in erster Linie einen VKA erhalten. Wenn möglich, sollten die Patienten ein INR-Selbstmanagement durchführen, denn es vermindert Thromboembolien und die Letalität (6).
Fazit: Die neuen Zahlen aus dem Register der FDA ändern die bisherige Differenzialindikation von Vitamin-K-Antagonisten und den neuen Antikoagulanzien nicht (2). Die neuen Antikoagulanzien sind eine therapeutische Alternative, wenn es Schwierigkeiten bei der Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten gibt (Einstellung, Überwachung, Wechselwirkungen). Sie kommen z.B. nicht in Frage bei Niereninsuffizienz, besonders hoher Blutungsneigung oder als Partner von Thrombozytenaggregationshemmern.
Literatur
- AMB2010, 44, 6; AMB 2011, 45, 73.
- Wille, H.: KVNOaktuell 2013, Heft 11-12, 25.
- Wieloch,M., et al.: Eur. Heart J. 2011, 32, 2282.
- Southworth,M.R., et al.: N. Engl. J. Med. 2013, 368,1272.
- PharmazeutischeZeitung. Heft13/2013. Link zur Quelle
- Garcia-Alamino,J.M., et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2010, Issue 4. Art. No.:CD003839. DOI:10.1002/14651858.CD003839.pub2.
- AkdÄ: Leitfaden:Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern. Link zur Quelle
- http://mini-sentinel.org Link zur Quelle