Zusammenfassung: Die Behandlung von Patienten mit chronischer lymphatischer Leukämie und anderen B-Zell-Lymphomen mit dem BTK-Inhibitor Ibrutinib ist überproportional häufig mit dem Auftreten oder der Verschlechterung einer bereits bestehenden arteriellen Hypertonie sowie weiteren, teilweise schweren bis hin zu lebensbedrohlichen kardiovaskulären Nebenwirkungen assoziiert, z.B. Vorhofflimmern und ventrikuläre Arrhythmien, höhergradige AV-Blockierungen, Herzversagen, Blutungsereignisse. Diese Nebenwirkungen treten meist in den ersten 6 Monaten nach Beginn der Behandlung auf. Auf einige dieser Nebenwirkungen, z.B. kardiale Reizleitungsstörungen und Herzversagen, wird derzeit in der Fachinformation nicht hingewiesen. Ärzte sollten diese kardiovaskulären Nebenwirkungen kennen, ihre Patienten darüber bei Beginn einer Therapie mit Ibrutinib gründlich aufklären und sie während der ersten 6 Monate regelmäßig hinsichtlich kardiovaskulärer Nebenwirkungen untersuchen. Ob Ibrutinib für die längerfristige Therapie der unbehandelten chronischen lymphatischen Leukämie, insbesondere angesichts der häufig älteren Patienten mit möglicherweise kardiovaskulären Risikofaktoren, ein besonders gut geeigneter Wirkstoff ist, muss aufgrund dieser gravierenden Nebenwirkungen bezweifelt werden. Aktuell laufende Studien zu neueren BTK-Inhibitoren (z.B. Acalabrutinib, Zanubritinib) werden zeigen, ob diese weniger kardiovaskuläre Nebenwirkungen haben.
Wir haben in den letzten Jahren wiederholt über Ibrutinib, einen Inhibitor der Bruton Tyrosinkinase (BTK) berichtet, der 2014 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zunächst für die Behandlung von Patienten mit rezidivierter oder refraktärer chronischer lymphatischer Leukämie der B-Zellreihe (B-CLL) als Monotherapie oder in Kombination mit Chemo-/Immuntherapie (Bendamustin und Rituximab) zugelassen wurde (vgl. 1). Inzwischen hat Ibrutinib auch eine Zulassung für weitere Anwendungsgebiete erhalten: als Monotherapie für das rezidivierte oder refraktäre Mantelzell-Lymphom (MCL), als Monotherapie oder in Kombination mit Rituximab für den Morbus Waldenström (MW) sowie als Monotherapie oder in Kombination mit Obinutuzumab zur Behandlung von Patienten mit nicht vorbehandelter B-CLL (2; vgl. 3). Bereits im Jahr 2014 wurde Ibrutinib von Analysten ein Blockbusterstatus mit einem jährlichen Umsatz von 4,5 Mrd. US-$ weltweit im Jahr 2019 prophezeit (vgl. 1). Ob sich diese Prognose erfüllt hat, wissen wir noch nicht. Unabhängig davon ist Ibrutinib jedoch der kommerziell mit Abstand erfolgreichste neue Wirkstoff zur Behandlung der B-CLL und anderer B-Zell-Lymphome. Mit Nettokosten für die Gesetzliche Krankenversicherung in Höhe von 218,5 Mio. € gehörte Ibrutinib 2018 in Deutschland bereits zu den 30 umsatzstärksten Arzneimitteln. Die Verordnungen stiegen auf 878,9 definierte Tagesdosen (angegeben in Tsd.), was einer Steigerung um knapp 30% gegenüber 2017 entspricht (4). Gründe hierfür sind neben der guten Wirksamkeit, vor allem bei Patienten mit prognostisch ungünstigen genetischen Veränderungen (z.B. 17p-Deletion, TP53-Mutation, keine Mutationen im IgHV Gen) – meist im Vergleich mit Zytostatika und/oder gegen das CD20-Antigen gerichteten monoklonalen Antikörpern (z.B. Rituximab) – auch die Ausweitung der Anwendungsgebiete und intensive Marketingstrategien, die für die Zukunft u.a. einen Paradigmenwechsel infolge „Chemotherapie-freier“ Behandlung der B-CLL suggerieren.
Während in den ersten klinischen Studien mit Ibrutinib vorwiegend Nebenwirkungen wie Diarrhö, Fatigue, Infektionen der oberen Atemwege sowie eine verstärkte Blutungsneigung berichtet wurden (vgl. 1), hat inzwischen das häufige Auftreten einer arteriellen Hypertonie, aber auch anderer kardiovaskulärer Nebenwirkungen unter einer Therapie mit Ibrutinib verstärkte Aufmerksamkeit bei Hämatologen und Kardiologen erregt (5-10). Bereits 2017 und 2018 wurde anlässlich der Jahreskongresse der American Society of Hematology (ASH) in Postern darüber berichtet, dass Patienten unter „Real-World“-Bedingungen, die wegen einer B-CLL mit Ibrutinib behandelt worden waren, eine deutlich höhere Inzidenz für das Auftreten einer arteriellen Hypertonie und von Vorhofflimmern aufwiesen als Patienten, die andere Wirkstoffe zur Behandlung der CLL erhielten (9, 10).
Inzwischen sind Ergebnisse der Analyse der weltweit größten Datenbank von gemeldeten Nebenwirkungen sowie eines der zuvor genannten Poster als Vollpublikationen veröffentlicht worden (5, 7).
Die bisher größte „Real-World“-Analyse zu kardiovaskulären unerwünschten Ereignissen unter Ibrutinib wurde anhand der „WHO VigiBase“ vorgenommen, einer von der Weltgesundheitsorganisation etablierten Datenbank, in der > 16 Mio. Verdachtsberichte über Nebenwirkungen (sog. „Case Safety Reports“ = ICSR) aus 130 Ländern gespeichert sind. In VigiBase konnten > 13.500 „Fälle“ mit Ibrutinib-Behandlung identifiziert werden (5, 6). Zur Auswertung dieser Berichte wurde ein statistisches Verfahren („disproportionality analysis“) herangezogen, das in Datenbanken mit Spontanberichten Signale für überproportional häufig gemeldete unerwünschte Ereignisse erkennt und u.a. anhand der berichteten Odds Ratio („reported odds ratio“ = ROR) entscheidet, ob die berichteten unerwünschten Ereignisse mit Ibrutinib assoziiert waren. Diese Analyse ergab statistisch signifikante Assoziationen (p-Werte jeweils < 0,0001) zwischen der Einnahme von Ibrutinib und Berichten über supraventrikuläre Arrhythmien (ROR 23,1), hämorrhagische ZNS-Ereignisse (ROR 3,7), ventrikuläre Arrhythmien (ROR 4,7), kardiale Reizleitungsstörungen (ROR 3,5), ischämische ZNS-Ereignisse (ROR 2,2) sowie arterielle Hypertonie (ROR 1,7). Die kardiovaskulären Nebenwirkungen traten bereits früh unter der Therapie auf (Reizleitungsstörungen innerhalb der ersten 30 Tage; Vorhofflimmern, ventrikuläre Arrhythmien und Herzversagen nach 2-3 Monaten; Hypertonie vor allem nach 4-5 Monaten) und waren auch mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert (ca. 10% infolge Arrhythmien, jeweils etwa 18% aufgrund von kardialen Reizleitungsstörungen bzw. ZNS-Ereignissen und 21% infolge von Herzversagen; 5, 6).
Einige dieser kardiovaskulären Nebenwirkungen sind bereits in den US-amerikanischen bzw. deutschen Fachinformationen zu Ibrutinib erwähnt (z.B. blutungsassoziierte Ereignisse, kardiale Arrhythmien, Hypertonie), nicht jedoch unerwünschte Ereignisse wie Herzversagen und Reizleitungsstörungen (vor allem hochgradige AV-Blockierungen). Andere kardiovaskuläre Nebenwirkungen wie beispielsweise myokardiale Ischämie oder Verlängerung der QT-Zeit traten demgegenüber nicht überproportional häufig auf (5).
Die Autoren und ein Editorial zu dieser Analyse diskutieren ausführlich die derzeit vermuteten pathophysiologischen Mechanismen, die für die kardiovaskulären Nebenwirkungen, einschließlich Hypertonie und Blutungsereignissen, verantwortlich sind. Während Interaktionen von Ibrutinib („off-target“-Toxizität) mit dem Phosphoinositid-3-Kinase(PI3K)-Signalweg, einem wichtigen Regulationsmechanismus in Stresssituationen des Herzens, am Auftreten von Vorhofflimmern und der Hypertonie beteiligt sein könnten, sind die erhöhten Blutungsereignisse aufgrund einer verminderten Plättchenfunktion möglicherweise Folge der Interaktion der BTK mit der durch den von Willebrand-Faktor vermittelten Adhäsion an Thrombozyten (5, 6).
Die Aussagekraft derartiger „Real-World“-Analysen ist natürlich begrenzt, da beispielsweise die genaue Zahl der mit Ibrutinib behandelten Patienten unbekannt ist und nicht alle vermuteten Nebenwirkungen von Ibrutinib den nationalen Arzneimittelbehörden gemeldet werden und deshalb auch nicht in VigiBase auftauchen (5). Da zudem die Meldungen zu Nebenwirkungen häufig aus inhomogenen Quellen stammen, konnten auch relevante klinische, laborchemische und radiologische Befunde zu individuellen Patienten meist nicht überprüft werden. Umso wichtiger ist es, dass diese durchaus beunruhigenden Signale zu schweren kardiovaskulären Nebenwirkungen bzw. Blutungsereignissen unter Ibrutinib auch weiterhin gut dokumentiert und gründlich analysiert werden.
Eine kürzlich in Blood publizierte retrospektive, monozentrische Untersuchung aus dem Ohio State University’s Comprehensive Cancer Center, in dem von 2009 bis 2016 insgesamt 562 Patienten konsekutiv wegen unterschiedlicher B-Zell-Neoplasien mit Ibrutinib behandelt wurden, liefert ebenfalls wichtige Ergebnisse – sowohl zur Häufigkeit des Auftretens einer Hypertonie (primäres Ergebnis; definiert als systolischer Blutdruck ≥ 130 mm Hg an zwei unterschiedlichen Vorstellungsterminen beim Arzt innerhalb von 3 Monaten), als auch zum sekundären Ergebnis, nämlich anderen wesentlichen unerwünschten kardiovaskulären Ereignissen („major adverse cardiovascular events“ = MACE; 7). Die Assoziation zwischen der Behandlung mit Ibrutinib und dem Auftreten von MACE wurde anhand des „Naranjo Probability Score“ ermittelt – einer Skala, die eine Beurteilung aller unerwünschten Arzneimittelwirkungen standardisieren soll. Die Festlegung des Schweregrads von arterieller Hypertonie und MACE erfolgte gemäß der „Common Terminology Criteria for Adverse Events“ (CTCAE v5; 11). Darüber hinaus wurde die Beeinflussung der Hypertonie durch unterschiedliche Antihypertensiva untersucht. Bei 78,3% (n = 440) der in dieser Studie mit Ibrutinib behandelten und retrospektiv anhand der medizinischen Unterlagen ausgewerteten Patienten trat früh im Verlauf der Behandlung (bei 50% innerhalb von 1,8 Monaten) eine Hypertonie neu auf oder verschlechterte sich (mediane Nachbeobachtung: 30 Monate). Die deutlich höhere Häufigkeit von Hypertonie im Vergleich zu früheren klinischen Studien mit Ibrutinib ist vermutlich zurückzuführen auf die verwendeten strengen Grenzwerte für die Definition der Hypertonie und ein „Underreporting“ – Hypertonie wurde früher nicht als typische Nebenwirkung von Ibrutinib erkannt. Bei Grenzwerten von ≥ 140/90 mm Hg verringerte sich die Inzidenz einer neu aufgetretenen Hypertonie auf 44% (8).
Bei Patienten mit neu aufgetretener Hypertonie kam es auch überproportional häufig zu MACE (u.a. Vorhofflimmern und ventrikulären Arrhythmien), die durch frühzeitige antihypertensive Behandlung verhindert werden konnten. Eine besonders gute Wirksamkeit einer Wirkstoffgruppe der Antihypertensiva war aber nicht erkennbar. Prädiktive Faktoren für das Auftreten von MACE konnten in dieser Studie auch nicht ermittelt werden, und viele Patienten mit MACE hatten keine typischen Risikofaktoren (z.B. höheres Alter, vorausgegangenes Vorhofflimmern, Diabetes mellitus, Myokardinfarkt).
Das verstärkte Auftreten von Vorhofflimmern und die durch Ibrutininb etwa dreifach gesteigerte Inzidenz von Hypertonie (Grad 3 oder 4) wurde inzwischen auch durch systematische Übersichtsarbeiten bzw. Metaanalysen bestätigt (12).
Literatur
- AMB 2014, 48, 59 Link zur Quelle . AMB 2015, 41, 68b Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 49. Link zur Quelle
- https://www.fachinfo.de/suche/fi/022468 Link zur Quelle
- AMB 2019, 53, 49. Link zur Quelle
- Ludwig, W.-D., und Schwabe, U.: Orphan-Arzneimittel. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
- Salem, J.-E., et al. (EROCA = Evaluation of Reporting Of Cardio-vascular Adverse events with antineoplastic and immunomodulating agents): J. Am. Coll. Cardiol. 2019, 74, 1667. Link zur Quelle
- Bergler-Klein, J.: J. Am. Coll. Cardiol. 2019, 74, 1679. Link zur Quelle
- Dickerson, T., et al.: Blood 2019, 134, 1919. Link zur Quelle
- Ahn, I.E.: Blood 2019, 134, 1881. Link zur Quelle
- Nero, D., et al.: Blood 2017, 130 (Suppl. 1), 4692.
- Dickerson, T., et al.: Blood 2018, 132 (Suppl. 1), 4423.
- https://ctep.cancer.gov/protocoldevelopment/ electronic_applications/docs/ CTCAE_v5_Quick_Reference_5x7.pdf Link zur Quelle
- Caldeira, D., et al.: PLoS One 2019, 14, e0211228. Link zur Quelle