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Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ignoriert Forschungsergebnisse zu Interessenkonflikten

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF e.V.) hat zwei Positionspapiere veröffentlicht, in denen das Verhältnis medizinischer Wissenschaften zur Industrie als quasi natürliche Symbiose dargestellt wird [1][2]. So vertritt die AWMF beispielsweise die Auffassung, dass Kongresse, Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen „natürliche und notwendige Kooperationsformen“ zwischen medizinischen Wissenschaften und Industrie bildeten, welche die „Möglichkeit eines besonders umfassenden Erkenntnis- und Erfahrungsaustauschs zwischen den an der Gesundheitsversorgung Beteiligten“ böten. Dass die Industrie primär und oft nachdrücklich wirtschaftliche Interessen verfolgt, berücksichtigt die AWMF dabei nicht. Werbeveranstaltungen wie Industrieausstellungen bei Kongressen böten den Teilnehmenden laut AWMF die Möglichkeit, sich direkt über aktuelle Entwicklungen zu informieren und lieferten deswegen „wertvolle Ergänzungen“ zum wissenschaftlichen Vortragsangebot. Sie seien hinsichtlich der „Neutralität der wissenschaftlichen Tagung unschädliche Veranstaltungen“. Die Möglichkeiten zur Diskussion könnten der „Exploration von Kooperationen“ dienen. Außerdem vertritt die AWMF die Position, dass kommerzielle ärztliche Fortbildung CME-fähig sein müsse.

Die Verharmlosung des Einflusses der Industrie auf medizinische Fortbildungen und Fachkongresse wird zu Recht scharf kritisiert [3], auch von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) als Mitglied der AWMF [4]. Es wird gefordert, die beiden Positionspapiere zurückzuziehen [5]. In einem Statement relativiert die AWMF ihre Aussagen dahingehend, dass der konsequente Verzicht auf eine Kofinanzierung von Kongressen „nicht in jedem Fall gelingen“ werde [6]. Dabei ist es durchaus möglich, Fachkongresse ohne Sponsoring abzuhalten, wie die DEGAM seit vielen Jahren beweist.

Mit ihrer Haltung ignoriert die AWMF die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen zum Einfluss von Interessenkonflikten, von denen einige aktuell in einem Beitrag von Sydney Wolfe im „Drug and Therapeutics Bulletin“ zusammengefasst sind [7], vgl. [8]. Einleitend weist Wolfe darauf hin, dass Menschen schon immer versucht haben, andere durch Geld, Waren oder Dienstleistungen zu beeinflussen und dass dieses Verhalten schon längst aufgegeben worden wäre – wäre es nicht so erfolgreich. Darwins Prinzipien folgend, hätten sich die Taktiken zur Beeinflussung jedoch zunehmend entwickelt und verbreitet. Im Jahr 2019 haben Ärztinnen und Ärzte in den USA 3,6 Milliarden US-Dollar von pharmazeutischen Unternehmern (pU) oder Herstellern von Medizinprodukten (HvM) erhalten, u.a. als Beratungs- oder Vortragshonorar, Geschenk, Erstattung von Reisekosten oder für Mahlzeiten. Wolfe beschreibt verschiedene Studien, die den Einfluss von Zahlungen auf das Verschreibungsverhalten von Ärzten zeigen, darunter eine Untersuchung bei Opioiden. Die Studie ergab, dass Zahlungen von pU, beispielsweise für Vorträge oder Essen und Getränke, signifikant assoziiert waren mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, die empfohlene Dosis von Opioiden zu überschreiten. Dies war auch der Fall bei Patienten, die weder Krebs hatten noch im Hospiz waren. Eine andere Untersuchung zeigte für Adalimumab bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, dass für jeden US-Dollar, der an Ärzte gezahlt wurde, die Ausgaben für Adalimumab um mehr als 3 US-Dollar anstiegen. Auch eine systematische Übersichtsarbeit ergab, dass mit der Höhe der Zahlungen die Verschreibungen von Arzneimitteln des zahlenden pU ansteigen, sich die Verschreibungskosten erhöhen und vermehrt Originalpräparate verschrieben werden [9]. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass persönliche Zahlungen der Industrie die Fähigkeit von Ärzten vermindern, unabhängige therapeutische Entscheidungen zu treffen und dass sie für Patienten schädlich sein können. Wolfe fordert, dass in Europa die pU und HvM zur Transparenz ihrer Zahlungen an medizinisches Personal gesetzlich verpflichtet werden, so wie es in den USA durch den „Physician Payment Sunshine Act“ der Fall ist [10]. Eine freiwillige Verpflichtung führt nicht zu einer ausreichenden Transparenz (vgl. [11][12]). Doch Transparenz sei nicht genug, so Wolfe. Letztlich gehe es darum, alle kontraproduktiven Beziehungen zur Industrie aus der medizinischen Praxis zu eliminieren.

Fazit

Wie in den USA sollte in Europa eine gesetzliche Verpflichtung zur Offenlegung von finanziellen Beziehungen zu pharmazeutischen Unternehmern und Herstellern von Medizinprodukten eingeführt werden, damit Patienten sich zu den Interessenkonflikten ihrer Ärzte informieren können und Forschung zum Einfluss von Interessenkonflikten ermöglicht wird. Im Unterschied zur Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ist DER ARZNEIMITTELBRIEF der Auffassung, dass zertifizierte ärztliche Fortbildung und Fachkongresse unabhängig von Zahlungen der Industrie organisiert werden müssen, um die Ärzteschaft von kommerziell bestimmten Einflüssen zu befreien.

Literatur

  1. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Resolution_Forderungen/202111_Papier_Industrie-Kooperation.pdf (Link zur Quelle)
  2. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Resolution_Forderungen/202202_AWMF_Papier_Sponsoring_final.pdf (Link zur Quelle)
  3. https://www.transparency.de/aktuelles/detail/article/deutsche-medizinische-fachgesellschaften-verharmlosen-interessenkonflikte/. MEZIS-Nachrichten 2022, 1, 9. (Link zur Quelle)
  4. https://www.degam.de/files/Inhalte/Degam-Inhalte/Ueber_uns/Positionspapiere/Positionspapier_AWMF_Sponsoring_fin.pdf (Link zur Quelle)
  5. https://www.arznei-telegramm.de/html/2022_03/2203022_02.html (Link zur Quelle)
  6. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Die_AWMF/Presseinformationen/20220309_Statement__AWMF_Interessenkonflikte_f.pdf (Link zur Quelle)
  7. Wolfe, S.: Drug Ther. Bull. 2022, 60, 52. (Link zur Quelle)
  8. AMB 2022, 56, 40DB01. AMB 2016, 50, 17. AMB 2012, 46, 16b. (Link zur Quelle)
  9. Mitchel, A.P., et al.: Ann. Intern. Med. 2021, 174, 353. (Link zur Quelle)
  10. AMB 2014, 48, 88DB01. (Link zur Quelle)
  11. AMB 2021, 55, 64DB01. (Link zur Quelle)
  12. Lieb, K., Klemperer, D., Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Interessenkonflikte in der Medizin – Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten. Springer-Verlag, Heidelberg 2011.