Zusammenfassung: Die so genannten neuen Antikoagulanzien haben erstaunlich schnell den Weg in aktuelle Behandlungsrichtlinien für das Akute Koronarsyndrom gefunden. Für eine Beurteilung des Stellenwerts – speziell in der Kardiologie – müssen jedoch die Ergebnisse weiterer Phase-III-Studien abgewartet werden. Aber auch dann kann man die Sicherheit noch nicht beurteilen, wie das Beispiel Ximelagatran gezeigt hat. Gegen einen Routine-Einsatz der zurzeit zugelassenen neuen Substanzen sprechen auch die hohen Kosten.
In einem kürzlich in der Zeitschrift Circulation erschienenen Review-Artikel mit dem Titel „Beyond Unfractionated Heparin and Warfarin” geben die Autoren (alle vom kanadischen Hamilton General Hospital, Ontario) einen lesenswerten Überblick über neue Antikoagulanzien und deren Anwendung im kardiologischen Bereich sowie über klinische Anforderungen an Antikoagulanzien im allgemeinen (1).
Sowohl unfraktioniertes Heparin (UFH) als auch Kumarine wurden vor mehr als 60 Jahren entdeckt und waren – bei lange Zeit unbekanntem Wirkmechanismus – Jahrzehnte lang die einzig verfügbaren antikoagulatorisch wirksamen Substanzen. Die niedermolekularen Heparine (LMWH) wurden in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren entwickelt und waren ebenfalls bereits mehr als ein Jahrzehnt in klinischem Gebrauch, bevor ihre pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Eigenschaften im Vergleich mit UFH identifiziert wurden. Heute sind Vor- und Nachteile von Kumarinen, UFH und LMWH eingehend untersucht und in ihrer praktischen Relevanz auch jedem praktisch tätigen Arzt vertraut.
Durch Einsatz moderner Technologien (Isolierung natürlicher tierischer Antikoagulanzien, rekombinante Techniken) steht mittlerweile jedoch eine Reihe neuer Antikoagulanzien zur Verfügung, die die Gerinnung auf nahezu jeder gewünschten Ebene beeinflussen können.
Der antithrombotische Effekt bereits in klinischer Anwendung oder in Entwicklung befindlicher Antikoagulanzien beruht im wesentlichen auf der Inhibition der Bildung oder Aktivität von Thrombin oder beidem. Sowohl Faktor IIa als auch Faktor Xa sind Ansatzpunkte für Antikoagulanzien, wobei es keine Evidenz gibt, dass einer dieser beiden oder andere Ansatzpunkte innerhalb der Gerinnungskaskade hinsichtlich Effizienz und Sicherheit besser wären. Die Bedeutung neuer im Vergleich zu herkömmlichen Antikoagulanzien wird daher wahrscheinlich nicht so sehr durch die Inhibition eines speziellen Gerinnungsfaktors bestimmt, sondern durch andere Eigenschaften:
· weniger nicht-hämorrhagische UAW,
· günstigere Pharmakokinetik,
· vorhersagbare Dosis-Wirkungsbeziehung ohne Notwendigkeit einer Gerinnungskontrolle,
· Möglichkeit zur differenzierteren Dosierung,
· sichere Anwendung auch bei renaler oder hepatischer Insuffizienz,
· das Vorhandensein von Antidoten,
· die Kosten.
Da die Aufwendungen für klinische Studien im kardiologischen Bereich hoch sind, werden erste klinische Daten häufig an wenigen Patienten und zur Indikation venöse Thromboseprophylaxe erhoben, da hierbei in kürzerer Zeit Ergebnisse zu erhalten sind. Zur klinischen Anwendung sind bisher nur parenterale Antikoagulanzien in unterschiedlichen Indikationsgebieten zugelassen. Die Suche nach oralen Antikoagulanzien als Ersatz für die Kumarine wird daher mit besonderem Nachdruck betrieben. Tab. 1 gibt einen Überblick über die in Deutschland und Österreich zugelassenen und nicht zugelassenen Substanzen (letztere ohne Vollständigkeit). Die Literaturzitate im ARZNEIMITTELBRIEF sind Übersichten oder Referate, die Abonnenten auch auf unserer Website zur Verfügung stehen.
Akutes Koronarsyndrom (AKS): Bivalirudin: Mehrere Phase-III-Studien belegen, dass Bivalirudin ein effizientes und sicheres Antikoagulans für Patienten mit AKS ist, insbesondere im Zusammenhang mit einer perkutanen Koronarintervention (PCI). Reduzierte Blutungsraten (verglichen mit UFH), wie sie in ersten Studien berichtet wurden (Bivalirudin Angioplasty Study: 4312 Patienten [2]; REPLACE-2-Studie: 6010 Patienten [3]), wurden in späteren Studien aber nicht bestätigt (HERO-2-Studie: 17073 Patienten [4]; ACUITY-Studie: 13819 Patienten [5]).
Die neuen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC [6]) geben eine Klasse-I-B-Empfehlung (Klasse I-B heißt: Empfehlung Klasse I, Evidenzlevel B) für Bivalirudin im Rahmen einer „urgent invasive strategy” bei AKS (nota bene: UFH: Klasse I-C, Enoxaparin: IIa-B!).
Fondaparinux: Die OASIS-Studien (insgesamt 32170 Patienten) zeigten eine gute Wirksamkeit im Vergleich zu UFH beim Myokardinfarkt ohne ST-Strecken-Elevation und beim AKS (7) sowie im Vergleich zu „standard care” beim Myokardinfarkt mit ST-Strecken-Elevation (8). In beiden Studien fanden sich jedoch überproportional häufig Katheterthrombosen, was diese Substanz für den Gebrauch während der PCI ungeeignet macht. Die unerwartet signifikant niedrigeren Blutungsraten in der OASIS-5-Studie sind nach Meinung der Autoren des Reviews auf die relativ geringe Dosierung von Fondaparinux zurückzuführen und werden von ihnen als Hinweis auf eine möglicherweise unnötig hohe Standarddosierung von UFH bzw. LMWH beim AKS gesehen. Bemerkenswerterweise bekam aber Fondaparinux in den aktuellen ESC-Leitlinien nur auf Basis der OASIS-5-Studie (!) eine Klasse-I-A-Empfehlung in der Indikation „non-urgent acute coronary syndrome” (UFH und LMWH: IIa-B!).
Thromboembolieprophylaxe bei Vorhofflimmern (VHF): Die hohe Prävalenz von VHF und die erwiesene Wirksamkeit der oralen Antikoagulation einerseits sowie die Nachteile der Kumarine andererseits (geringe therapeutische Breite, multiple Interaktionen mit Medikamenten und Nahrungsmitteln) machen diese Indikation besonders interessant für neue Antikoagulanzien.
Ximelagatran: Die kombinierten Ergebnisse der beiden Phase-III-Studien SPORTIF III und V (7329 Patienten [9]) ergaben eine 16%ige relative Risikoreduktion des kombinierten Endpunkts aller Schlaganfälle (ischämisch und hämorrhagisch), systemischer embolischer Ereignisse, schwerer Blutungen und Tod (Vergleich von Ximelagatran in fixer zweimal täglicher Einnahme p.o. vs. Kumarin nach INR). Obwohl Ximelagatran in den USA nicht von der FDA zugelassen wurde und in Deutschland wegen Hepatotoxizität vom Markt genommen werden musste (s. 10, 11), haben die Studien doch gezeigt, dass grundsätzlich eine effiziente orale Antikoagulation ohne die Notwendigkeit eines Gerinnungsmonitorings möglich ist.
Dabigatran: Zwei Studien zur Prophylaxe von Thromboembolien nach totaler Endoprothese der Hüfte bzw. des Knies ergaben eine gleiche Wirksamkeit wie Enoxaparin (16, 17). Es läuft eine Phase-III-Studie (12) an 14 000 Patienten mit VHF. In Phase-II-Studien fand sich eine geringe Hepatotoxizität. Rivaroxaban, Apixaban: Es laufen Phase-III-Studien.
Literatur
- Hirsh, J., et al.: Circulation 2007, 116, 552. Link zur Quelle
- Bittl, J.A., et al. (Bivalirudin Angioplasty Study): Am. Heart J. 2001, 142, 952. Link zur Quelle
- Lincoff, A.M., et al. (REPLACE-2 = Randomized Evaluation in PCI Linking Angiomax to reduced Clinical Events): JAMA 2003, 289, 853. Link zur Quelle
- White, H., et al. (HERO-2 = Hirulog and Early Reperfusion or Occlusion-2): Lancet 2001, 358, 1855. Link zur Quelle
- Stone, G.W., et al. (ACUITY = Acute Catheterization and Urgent Intervention Triage strategy): N. Engl. J. Med. 2006, 355, 2203. Link zur Quelle
- Bassand, J.P., et al.: Eur. Heart J. 2007, 28, 1598. Link zur Quelle
- Yusuf, S., et al. (OASIS-5 = Organization to Assess Strategies for Ischemic Syndromes-5): N. Engl. J. Med. 2006, 354, 1464. Link zur Quelle
- Yusuf, S., et al. (OASIS-6 = Organization to Assess Strategies for Ischemic Syndromes-6): JAMA 2006, 295, 1519. Link zur Quelle
- Diener, H.C. (SPORTIF III und V = Stroke Prevention using ORal Thrombin Inhibition in atrial Fibrillation): Cerebrovasc. Dis. 2006, 21, 279. Link zur Quelle
- AMB 2006, 40, 24a. Link zur Quelle
- AMB 2004, 38, 17. Link zur Quelle
- RELY = Randomized Evaluation of Long-term anticoagulant therapY: 2007 laufende Studie.
- AMB 1998, 32, 25. Link zur Quelle
- AMB 2007, 41, 01. Link zur Quelle
- AMB 2002, 36, 84. Link zur Quelle
- Eriksson, B.I., et al. (RE-MODEL): J. Thromb. Haemost. 2007, vorveröffentlicht. Link zur Quelle
- Eriksson, B.I., et al. (RE-NOVATE): Lancet 2007, 370, 949. Link zur Quelle