Schreiben von T.E. aus T. (stark gekürzt und auf inhaltliche Punkte beschränkt): >> Mir ist im Internet eine Stellungnahme aus Ihrem Haus (1) begegnet, welche hoffentlich in der Zwischenzeit revidiert/aktualisiert wurde. In Ihrer damaligen Stellungnahme wird auch von Ihrer Seite völlig übergangen/vergessen/ausgeblendet, dass eine manifeste Niereninsuffizienz (ohne nähere Klassifizierung) eine Kontraindikation für den Einsatz von Vitamin-K-Antagonisten (VKA) darstellt … Seit Jahrzehnten gab es bei uns in Germanien (im Rest der Welt wohl eher nicht; was hat sich der Rest wohl dabei gedacht?) nur die Option Marcumar® … Mangels alternativer Strategien hat man die vom Hersteller vorgegebene Kontraindikation „Niereninsuffizienz“ leger übergangen … Auch die höchst unbefriedigenden TTR (Time in Therapeutic Range)-Raten unter VKA-Therapie hat man flächendeckend lässig akzeptiert. Formal war dieses Vorgehen ab einer GFR unter 60 ml/min. immer schon mindestens ein „Off label use“ resp. ein „Heilungsversuch“ … Seit es für GFR-Raten bis zu 30 ml/min. (zum Teil auch bis 15 ml/min.) zugelassene Alternativen gibt, ist es aus hiesiger Sicht ein Kunstfehler, unterhalb einer GFR von 60 ml/min. überhaupt noch VKA einzusetzen (Kosten hin oder her). <<
Antwort: >> Die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK; Faktor-Xa- bzw. Thrombin-Hemmer) und VKA sind auch im Jahr 2017 bei fortgeschrittener bzw. terminaler Niereninsuffizienz nicht zugelassen bzw. die Hersteller raten von deren Anwendung ab: Pradaxa® (Dabigatran) ist bei einer Kreatinin-Clearance (CrCl) < 30 ml/min. kontraindiziert; Xarelto® (Rivaroxaban) und Eliquis® (Apixaban) bei CrCl < 15 ml/min. kontraindiziert, und Xarelto® soll bei CrCl < 30 ml/min. laut Fachinformation „nur mit Vorsicht“ angewendet werden. Lixiana® (Edoxaban) wird bei Patienten „mit terminaler Niereninsuffizienz oder Dialysepatienten nicht empfohlen“. Eliquis® ist dagegen in den USA auch für Dialysepatienten zugelassen.
Sie haben Recht, dass Marcumar® (Phenprocoumon) bei Patienten mit „manifester Niereninsuffizienz“ laut Fachinformation kontraindiziert ist. Sein Einsatz erfolgt in dieser Situation also ebenso „Off label“ wie der von NOAK. Formal könnte man jedoch auf einen anderen VKA ausweichen, wie z.B. Coumadin® (Warfarin). Hierfür ist keine Kontraindikation bei Niereninsuffizienz formuliert.
Ob überhaupt und wenn ja, welche OAK bei terminaler Niereninsuffizienz angewendet werden, wird unter Nephrologen diskutiert. J. Flöge (Aachen) hat sich intensiv mit dem Thema OAK bei Dialysepatienten und Vorhofflimmern beschäftigt (2) und legt die Latte für eine OAK wegen ungünstiger Nutzen-Risiko-Relation sehr hoch. Nur bei klarer Indikation (z.B. Kunstklappen, Lungenembolie) solle überhaupt oral antikoaguliert werden, nicht dagegen bei Vorhofflimmern allein (keine Studien!). Wenn OAK angewendet werden, dann aber Coumarine, trotz der bekannten Gefahren von Gefäßverkalkungen und Calciphylaxie (vgl. 3). Die Begründung für die Coumarine sind in erster Linie praktische Erwägungen (Messbarkeit der Gerinnungshemmung, Erfahrung) und Hinweise aus Dialyse-Registern, dass es unter NOAK (hier: Dabigatran, Rivaroxaban) vermehrt zu Blutungen kommt (4).
Auch andere Experten sehen das ähnlich. Zitat aus UpToDate®: „With regard to the choice of anticoagulant in these patients, we prefer warfarin (INR 2-3) as opposed to NOACs. This is based on the fact that there is a wide clinical experience with warfarin in these patients and that patients with an eGFR of < 30 ml/min/1,73 m2 were almost entirely excluded from the randomized trials of the NOAC agents. In addition, unlike patients with normal renal function, patients with stage 4 CKD are at higher risk of having unpredictable sudden deterioration in renal function, which could suddenly result in less clearance of a NOAC that depends on renal metabolism” (5).
Wir können aktuell nur zwei registrierte Studien finden, die sich mit dem von Ihnen aufgeworfenen Thema beschäftigen: RENAL AF und AXADIA (Apixaban vs. VKA bei Dialysepatienten mit Vorhofflimmern; Ende jeweils 2019; 6, 7).
Ihr Vorschlag, NOAK seien bei Niereninsuffizienz im Stadium G4 (vgl. 8) bevorzugt einzusetzen, ist, wie der Rat der zitierten Experten, mit Coumarinen zu behandeln, nicht evidenzbasiert. Aus gepoolten Subgruppenanalysen der großen NOAK-Studien ergibt sich: „Je mehr die Nierenfunktion abnimmt, desto geringer ist der Vorteil der NOAK gegenüber VKA“ (9).
Es sei nochmals auf die praktisch sehr wichtige Übrerlegung aus dem UpToDate-Artikel zur Steuerbarkeit der NOAC hingewiesen (5): „Unlike patients with normal renal function, patients with stage 4 CKD are at higher risk of having unpredictable sudden deterioration in renal function, which could suddenly result in less clearance of a NOAC that depends on renal metabolism”.
Zudem fehlen nach wie vor praktikable Monitoring-Möglichkeiten für das Ausmaß der Gerinnungshemmung bei der Behandlung mit NOAK.
Wir sehen deshalb im ARZNEIMITTELBRIEF derzeit keine Veranlassung, unsere Empfehlungen zu ändern. <<
Literatur
- AMB 2013, 47, 40DB01 Link zur Quelle
- Flöge, J.: Nephrolog. Seminar Heidelberg 2016. Link zur Quelle
- AMB 2016, 50, 08. Link zur Quelle
- Chan, K.E., et al.: Circulation 2015, 131, 972. Link zur Quelle
- Manning, W.J.: UpToDate: Management of thromboembolic risk in patients with atrial fibrillation and chronic kidney disease. Topic last updated: Nov. 17, 2016. Link zur Quelle
- https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02942407 Link zur Quelle
- https://clinicaltrials.gov/… Link zur Quelle
- Akbari, A., et al.: Am. J. Kidney Dis. 2015, 65, 177. Link zur Quelle
- Lutz, J., et al.: Int. J. Nephrol. Renovasc. Dis. 2017, 10, 135. Link zur Quelle
. AMB 2013, 47, 80DB01. Link zur Quelle